Ontologie des Mesokosmos:

Soziale Objekte und Umwelten


Barry Smith




                                                                                Zeitschrift für philosophische Forschung,

                                                                                52 (1998), 521–540.

 
Kurzfassung Erst in neuester Zeit haben sich analytische Philosophen vorbehaltlos dem Bereich der Metaphysik gewidmet. Unter den interessantesten Ergebnissen dieser ,analytischen Metaphysik' ist John Searles neues Buch zur Ontologie der sozialen Gegenstände (Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Hamburg: Rowohlt, 1997). Was sind Staaten, Gemeinschaften, Gesetze? Nach Searle sind diese Gegenstände Korrelate einer ,kollektiven Intentionalität'. Searle vertritt m.a.W. eine kognitive Theorie von sozialen Gegenständen. Ein Problem bei einer solchen Theorie ist, daß wir Analogien zu bestimmten sozialen Gebilden auch bei Tieren begegnen, die den begrifflichen Apparat einer kollektiven Intentionalität nicht besitzen. Um dieses Problem zu umgehen, liegt es nahe, die biologischen Lehren von tierischen Umwelten, die etwa durch von Uexküll entwickelt wurden, auszunutzen. Von Uexkülls Umweltlehre ist jedoch eine Art organische Monadologie: jedes Tier, jeder Mensch, ist in seiner eigenen spezifischen Umwelt beheimatet, und es wird also schwer verständlich, wie das Verhalten zwischen Tieren überhaupt möglich ist. Der vorliegende Beitrag bietet eine Lösung dieses Problems, durch die wir auch eine verbesserte Auffassung der Ontologie sozialer Gegenstände überhaupt gewinnen. Als Grundlage dieser Auffassung dient die realistische Theorie menschlicher Umwelten, die in der ökologischen Psychologie J. J. Gibsons und Roger Barkers entwickelt wurde.

 

Soziale Objekte

Die Philosophiegeschichte liefert verschiedene Ansatzpunkte für die Behandlung der Frage nach dem Wesen von sozialen Objekten.

Auf der einen Seite gibt es holistische und realistische Ontologien des Sozialen. Für Heidegger z. B. sind Menschen keine isolierten Individuen sondern durch Andere, durch Werkzeuge, durch Traditionen verstrickt in eine Mitwelt, die nur als Ganzes existiert. Eine holistische Auffassung des Sozialen findet man auch bei Wittgenstein, der soziale Institutionen als Teile der Naturgeschichte des Menschen auffassen wollte, verflochten mit unseren Handlungen, vor allem sprachlichen Handlungen - allgemeiner mit unseren Lebensformen, mit den bestimmenden Konformitäten des gemeinsamen menschlichen Lebens.

Auf der anderen, nicht-holistischen Seite gibt es die unter analytischen Philosophen heute weit verbreiteten atomistischen und reduktionistischen Ontologien des Sozialen. Für Reduktionisten gibt es nur individuelle Menschen mit ihren individuellen Handlungen und Gewohnheiten. Die Rede von genuin sozialen Objekten gilt es zugunsten von Redewendungen zu eliminieren, worin man nur von Entitäten spricht, die zum Individuenbereich gehören. Wenn ich z. B. sage, daß eine Parade sich die Straße entlang bewegt, ist das nur eine Abkürzung für eine viel längere Äußerung über die Bewegungen der involvierten Einzelpersonen.

Ich gehe davon aus, daß sowohl extrem holistische als auch extrem reduktionistische Auffassungen des Sozialen abzulehnen sind. Die heutige Philosophie bietet eine Reihe von Vorschlägen, die zwischen diesen beiden Polen liegen. Viele Philosophen des 20. Jahrhunderts haben z. B. behauptet, daß wir das Soziale mit Hilfe einer Theorie sozialer Regeln verstehen sollen. Der Unterschied zwischen einer Masse von Individuen, die sich zu einer gewissen Zeit zufällig in einem Park befinden, und einem Fest oder Fußballspiel besteht darin, sagen die Verfechter solcher Lehren, daß letztere gewissen 'Konventionen' oder 'konstitutiven Regeln' unterworfen sind, die bei einem zufälligen Beisammensein fehlen. Ein Fest ist allerdings etwas Konkretes, ein räumlich-zeitliches Objekt, das wir sehen und das wir als Teilnehmer miterleben können. Eine Regel dagegen ist etwas Abstraktes, etwas ohne wohldefinierte räumlich-zeitliche Lage. Dürfen wir aber im Bereich des Sozialen etwas Bekanntes mit Hilfe von etwas weniger Bekanntem zu verstehen versuchen? Es ergibt sich für viele Arten sozialer Regeln weiter die heikle Frage, wann sie zu existieren beginnen: mit der ersten Formulierung oder Inkrafttretung? Mit dem ersten Fall eines Regelfolgens? Und was heißt es genau, einer Regel zu folgen? Worin unterscheidet sich das Regelfolgen von einem Handeln, das nur zufälligerweise der Regel konform ist?

Einen interessanten und einflußreichen Versuch, diese äußerst schwierigen Fragen zu beantworten, finden wir bei John Searle, und zwar in seinem neuesten Buch: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen. Hierin bietet Searle eine kognitive Theoriedes Sozialen. Für ihn existieren soziale Objekte und soziale Regeln als Schöpfungen einer besonderen 'kollektiven Intentionalität'. Letztere ist durch spezielle Glaubenszustände konstituiert, die dadurch entstehen, daß Individuen Projekte gemeinsam unternehmen, etwa da, wo die Mitglieder eines Orchesters gemeinsam die dritte Symphonie Beethovens aufführen. Für Searle ist diese kollektive Intentionalität ein 'primitives Phänomen, das nicht zugunsten von etwas Anderem reduziert oder eliminiert werden könnte.' (1)

Searles Ontologie des Sozialen hat den Vorteil, daß sie in der Lage ist, eine unbeschränkte Palette sozialer und institutioneller Objekte im Rahmen einer einheitlichen Theorie zu erklären, vom Aktienmarkt oder dem Nobelpreis für Physik bis hin zu einem Begräbnis oder einer Sitzung des Bundesrates. Mit seinem Begriff der kollektiven Intentionalität übernimmt Searle gewisse Aspekte der holistischen Theorie sozialer Objekte. Er bietet allerdings keine realistische Ontologie des Sozialen. Für ihn ist die ganze Hierarchie von sozialen Objekten, die auf der Grundlage von 'brute facts' der Physik und der Psychologie aufgebaut sein soll, nur eine Scheinwelt, die im Funktionieren der kollektiven Intentionalität völlig aufgeht. Wenn alle glauben, daß gewisse grüne Scheine die Eigenschaften des Geldes haben, dann sind diese Scheine 'Geld'. Durch diesen kognitiven Ansatz werden soziale Objekte effektiv vom Bereich des Mentalen absorbiert. Die Lehre Searles bietet daher keine Möglichkeit zur Unterscheidung zwischen genuin sozialen Objekten und den Scheinprodukten eines kollektiven Wahns.
 

Die phänomenologische Umweltlehre

Im folgenden möchte ich versuchen, eine realistische Ontologie von sozialen Objekten zu entwickeln, die einige Vorteile sowohl der holistischen als auch der reduktionistischen Theorien geniesst und die die Grundlage einer formalen Ontologie sozialer Gebilde liefern wird. Sie beginnt mit gewissen organischen oder gar ökologischen Aspekten unseres sozialen Lebens. Wo Wittgenstein mit Lebensformen und Searle mit konstitutiven Regeln als Grundkategorien oder Grundbausteine einer sozialen Ontologie beginnen, nehmen wir unseren Ausgangspunkt in der Hypothese, daß die sozialen Objekte in unserer Gesamtontologie im Bereich der Umwelten oder Milieus menschlichen Lebens zu orten sind.

Die Idee einer besonderen menschlichen Umwelt, oder einer 'Lebenswelt', hat tiefe Wurzeln, die bis auf Platons Höhlengleichnis und Kants Begriff einer 'phänomenalen' Welt zurückreichen. Auch innerhalb der phänomenologischen Bewegung finden wir eine ähnliche Vorstellung, so z. B. in Husserls Ontologie der Lebenswelt oder in Heideggers Lehre der Alltäglichkeit. Das Grundaxiom der konstitutiven Phänomenologie lautet: Gegenstände und Akte stehen in einer reziproken Abhängigkeitsbeziehung. Alle Gegenstände sind Korrelate entsprechender Akte. Oder wie Husserl im zweiten Buch seiner Ideen schreibt: 'Als Person bin ich, was ich bin …, als Subjekt einer Umwelt. Die Begriffe Ich und Umwelt sind untrennbar aufeinander bezogen.' (2)

Eine besonders aufschlußreiche Darstellung der phänomenologischen Umweltlehre finden wir bei Max Scheler, dessen Bemerkungen uns auch auf eine gewisse Unzulänglichkeit dieser Lehre aufmerksam machen werden:

Die "Dinge", die für unser Handeln in Frage kommen, die wir z. B. immer meinen, wenn wir bestimmte Handlungen von Menschen (oder Dispositionen zu solchen) auf das "Milieu" dieser Menschen zurückführen, haben mit … den in der Wissenschaft gedachten Gegenständen (durch deren Supposition sie die natürlichen Tatsachen "erklärt") selbstverständlich nicht das mindeste zu tun. Die Milieusonne z. B. ist nicht die Sonne der Astronomie; das Fleisch, das gestohlen, gekauft wird und so weiter, ist nicht eine Summe von Zellen und Geweben mit den in ihnen stattfindenden chemischen und physikalischen Prozessen. Die Milieusonne ist am Nordpol, in der gemäßigten Zone und am Äquator eine andere Sonne und ihr gespürter Strahl ein anderer Strahl. (3)


Das Problem mit solchen Behauptungen ist klar. Wie jedes Schulkind, das ein Mikrosop besitzt, weiß, ist Fleisch, das gestohlen und gekauft wird, sehr wohl eine Summe von Zellen und Geweben, die Sonne am Nordpol sehr wohl dieselbe Sonne, die am Äquator erlebt wird. Es kann nicht der Fall sein, daß die Dinge unserer praktischen Umwelt 'nicht das mindeste' mit den Gegenständen der Wissenschaften zu tun haben.

Für Scheler wie für andere Phänomenologen gehören Alltagsgegenstände einem Zwischenreich an, welches zwischen unserem Wahrnehmungsinhalt und den 'objektiv gedachten' Gegenständen der Wissenschaft liegt. Das zentrale Problem mit solchen relativistischen Auffassungen des Verhältnisses zwischen Mensch und Umwelt besteht darin, daß sie die Existenz einer gemeinsamen, einer intersubjektiven Umwelt kaum erklären können. Wenn wir auf der anderen Seite die Existenz einer gemeinsamen Umwelt dadurch garantieren, daß wir letztere als physisches Gebilde erklären, führt diese Lösung zum weiteren Problem, daß wir die Alltagsdinge, die für unser Weiterleben unerläßlich sind, nicht mehr erkennen können, da solche mesoskopischen Objekte in den üblichen Theorien der Physik keinen Platz haben. Wir fallen also zwischen die Skylla eines monadologischen Relativismus fensterloser Umwelten und die Charybdis eines schlichten Physikalismus ohne Umwelten und Umweltgegenstände.

Im folgenden werde ich versuchen, einen dritten Weg zu finden, der den Gegenständen des Alltagslebens ihre eigene ontologische Berechtigung zuweist, ohne in einen ontologischen Relativismus zu geraten.
 

Die ineinandergeschachtelte Struktur der Wirklichkeit

Die phänomenologische Auffassung der menschlichen Umwelt soll m. E. ökologisch mit Hilfe des Begriffs einer Nische präzisiert werden. Eine Nische ist etwas, in das ein Lebewesen paßt. Die Nische ist durch das biologische Verhalten des entsprechenden Tiers bestimmt, dieses Verhalten selbst durch die entsprechende Nische. Wie Jakob von Uexküll es formulierte: Jedes Tier, von dem einfachsten bis zum komplexesten, ist an seine Umwelt mit gleicher Vollständigkeit angepaßt. Einem einfachen Tier entspricht eine einfache Umwelt, einem komplexen Tier eine artikulierte Umwelt. (4)

Zu einer Nische gehören zuerst gewisse physische Gegenstände sowie die Oberflächen, Kanten und Ecken dieser Gegenstände und das Medium (z. B. Wasser), worin sie existieren. Die Nische ist organisiert; sie hat eine gewisse Maserung und ihr eigenes räumlich-zeitlich-dingliches Skelett, wodurch die mehrdimensionale Vielfalt der durch das Tier erfaßbaren sinnlichen Qualitäten (Farben, Töne, Wärme, Gerüche, usw.) zu einer sinnvollen Einheit zusammengebunden werden. Vor allem aber gehört es zum Aufbau einer Nische, daß sie durch Aufforderungen geprägt ist, die das Verhalten des entsprechenden Lebewesens motivieren.

Die Wirklichkeit, auf die unsere Wahrnehmungsakte gerichtet sind, hat die Struktur eines komplexen Schichtenbaus. Atome auf der Mikroebene sind in Molekülen eingenistet, Moleküle in Zellen, Zellen in Blättern, Blätter in Bäumen, Bäume in Wäldern. Zeitliche Vorgänge, von neuronalen Erregungen auf der Mikro- bis hin zu geschichtlichen Ereignissen auf der Makroebene, sind ebenfalls in dieser Weise hierarchisch ineinandergeschachtelt.

Jedes Lebewesen ist durch evolutionäre Anpassung auf Gegenstände und Aufforderungen einer gewissen Größenordung oder Bandbreite innerhalb dieser Hierarchie eingestimmt. (5) Es herrscht dann eine spontane Anpassung zwischen Tieren und den mit ihnen zusammengewachsenen Verhaltensnischen sowie mit assoziierten Nischgegenständen wie Gerüchen, Stimmen und Gesichtsausdrücken. Nische und tierisches Verhalten sind im Fall einer solchen spontanen Anpassung korrelativ.

Im menschlichen Fall umfaßt die Bandbreite der Einstimmung zusätzliche Schichten komplexer kultureller Produkte, und die durch spontanes Verhalten zugängliche Umwelt des Menschen ist daher viel größer, reicher und vielfältiger als die des Tiers. Ihre Reichweite kann zuerst durch gewisse Artefakte ausgedehnt werden, z. B. durch Instrumente. Der geübte Organist, wie Merleau-Ponty ihn beschreibt, 'setzt sich auf die Bank, bedient die Pedale, zieht die Register, nimmt dem Instrument mit seinem Leibe Maß, verleibt sich Richtungen und Dimensionen ein, richtet in der Orgel sich ein wie man in einem Hause sich einrichtet.' (6) Oder auch: 'Wenn der Maschinenschreiber die notwendigen Bewegungen auf der Klaviatur ausführt, so sind diese Bewegungen geführt von einer Intention, doch diese setzt die Tasten der Klaviatur nicht als objektive Stellen an. Es ist buchstäblich wahr, daß Maschinenschreiben lernen heißt, den Raum der Klaviatur seinem Körperraum integrieren.' (7) Orgel und Tastatur, Zimmer und Gebäude, Türe und Gänge, Messer und Gabel, Schwimmbäder und Fußballplätze sind Artefakte, die zur Nische, zum Mesokosmos menschlichen Verhaltens gehören und die die Eigenart dieses Verhaltens durch und durch bestimmen.

Die Reichweite der durch spontanes Verhalten zugänglichen Umwelt des Menschen kann auch durch vielfache soziale (und vor allem sprachliche) Praktiken weiter ausgedehnt werden. Die physische Seite des Mesokosmos menschlichen Verhaltens ist dann mit dieser praktischen Seite und mit den dazugehörigen Gewohnheiten und Konventionen engstens verbunden. Es gibt spezifische Praktiken, die man z. B. mit Schwimmbädern assoziiert, andere, die mit Spielbanken und mit Bahnhöfen, mit Baustellen und Imbißstuben und wieder andere, die mit buddhistischen Tempeln und mit polynesischen Haifischjagden assoziiert sind. Die verschiedenen Kulturen unterscheiden sich dadurch, daß ihnen verschiedene Paletten von Artefakten und assoziierten sozialen Praktiken zur Verfügung stehen. Jedes Volk, wie Husserl schreibt, 'hat seine Welt, in der für dasselbe alles gut zusammenstimmt'. (8) Husserl betont auch, daß obwohl diese verschiedenen Welten des Zusammenstimmens sich inhaltlich oder materiell unterscheiden, sie alle eine gemeinsame Struktur aufweisen, die eine formal-ontologische Behandlung ermöglicht. (9)
 

Der Mesokosmos

Der Mesokosmos ist die ökologische Nische des Lebewesens Mensch. Seit Platon ist die philosophische Tradition durch eine Privilegierung von apodiktischem Wissen und durch eine entsprechende Geringschätzung alltäglicher Meinungen gekennzeichnet. Episteme wurde auf Kosten von doxa bevorzugt. Diese wohl vollkommen gerechtfertigte epistemologische Privilegierung hatte, wie wir jetzt konstatieren können, bedauernswerte Konsequenzen für die Ontologie. Werden die alltäglichen Meinungen des Menschen für philosophisch unbedeutsam erklärt, wird auch das ontologische Gegenstück dieser alltäglichen Meinungen, der Mesokosmos von alltäglichen Dingen und menschlichen Handlungen, von sozialen Objekten und Artefakten vernachläßigt. Im Gegensatz dazu versuche ich hier die Welt unseres Alltagslebens als ein eigenständiges Objekt ontologischer Forschung aufzufassen. Es bestehen natürlich vielfache Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Mesokosmos und physikalischem Mikrokosmos sowie zwischen Mesokosmos und menschlichem Geist. Sowohl in der Wahrnehmung als auch in unseren alltäglichen Handlungen sind wir mit den Dingen der uns umliegenden Welt verflochten, weil wir sie zum Teil konstituieren. Die Wahrnehmung soll dementsprechend nicht als eine Angelegenheit eines passiv beobachtenden Subjekts aufgefaßt werden. Wahrnehmungsakte wie Handlungen sind vielmehr, wenigstens im Normalfall, von zielstrebigen Lebewesen vollzogen. Die Gegenstände unseres aktiven Suchens, Tastens, Schmeckens, Fühlens sind Gegenstände - ein zerknittertes Hemd, ein leeres Glas, ein neu gespitzter Speer -, die in unseren augenblicklichen Aufgaben mitverwoben sind. Nach der ökologischen Auffassung vom menschlichen Subjekt sind Subjekt und Umwelt hier durcheinander fundiert: das Eine existiert nicht ohne das Andere. Wegen der evolutionären Anpassung zwischen Umwelt und Mensch sind die Dinge dieser Umwelt wenigstens in ihren groben Zügen stets so, wie sie uns in unseren Wahrnehmungsakten erscheinen, und die überwiegende Mehrheit von Urteilen, die auf direkten Wahrnehmungen beruhen ('dies ist ein Apfel', 'dies ist ein Baum', 'dies ist gelb', usw.), sind aus diesem Grund wahr.
 

Substanz und Akzidens

Die Gegenstände des Mesokosmos können zuerst in zwei grundlegende Kategorien eingeteilt werden, die den aristotelischen Kategorien der Substanzen und Akzidenzien entsprechen. Auf der einen Seite gibt es die in der Zeit beharrenden Gegenstände, wie Menschen, Steine, Äpfel, Bäume, Flaschen, Weinberge, Strände, usw. Auf der anderen Seite gibt es Ereignisse und Vorgänge, wie Schneestürme, Kriege, Küssen, Trinken, Feste, usw. die in beharrenden Gegenständen fundiert sind, und die sich in der Zeit entfalten. Die Substanzen der Alltagswelt sind unabhängig von ihren jeweiligen Akzidenzien. Qualitäten, Ereignisse und Vorgänge sind dagegen stets abhängig von den ihnen zugrundeliegenden Substanzen: sie können ohne die Substanzen, in denen (oder im Verhältnis zu denen) sie vorkommen, nicht existieren.

Sowohl Substanzen als auch Akzidenzien können eine mehrschichtige Zusammensetzung aufweisen: ein Mensch ist aus Atomen aufgebaut, die sich zusammenbinden in Zellen, die sich in Organen binden, die sich den Menschen selbst bilden. Ein Tennismatch ist aus Ballwechseln aufgebaut, die Spiele formen, die in Sätze zusammengetragen werden, die aus sich das Match selbst bilden. Die Teile einer Substanz sind räumliche Teile. Akzidenzien dagegen haben auch zeitliche Teile: die ersten 3 Minuten des Symphoniekonzerts sind ein Teil des Konzerts selbst. 

Substanzen sind selbständig; sie existieren in und für sich. Akzidenzien sind unselbständig; sie verlangen einen substantiellen Träger, der ihre Existenz gewährleistet. Das Verhältnis zwischen Akzidens und Substanz können wir also mit Hilfe des Begriffs der spezifischen Abhängigkeit folgendermaßen definieren:

x ist spezifisch abhängig von y gdw. (1) x und y keine gemeinsame Teile haben, und (2) x notwendigerweise von der Art ist, daß es nicht existieren kann, ohne daß y existiert.
Es ist dies ein Verhältnis der spezifischen Abhängigkeit, weil Akzidenzien immer eine spezifische Substanz (oder möglicherweise - im Fall eines Küssens oder Befehlens - eine spezifische Vielfalt von Substanzen) als Träger benötigen. Mein Kopfschmerz ist z. B. spezifisch von mir abhängig (kann nicht ohne mich existieren). Akzidenzien, wie man im Mittelalter zu sagen pflegte, können nicht auf ein anderes Inhärenz-Subjekt überwandern (das Prinzip der 'non migratio'). Soziale Objekte und Umwelten dagegen, wie wir sehen werden, stehen zu ihren Trägern in einem Verhältnis der generischen Abhängigkeit: wie ein Amt erlauben sie einen Wechsel ihrer Träger.

Die Gesamtheit der Substanzen und Akzidenzien des Mesokosmos ist weiter dadurch gekennzeichnet, daß die Substanzen und Akzidenzien verschiedenen, sich nicht überschneidenden Arten, Spezies und Genera von verschiedenen Graden der Allgemeinheit zugeordnet sind. Es gibt immer wieder Menschen, immer wieder Tische und Stühle, immer wieder Äpfel, immer wieder den Spiegel. Es gibt immer wieder Kopfschmerzen, immer wieder Grüße, immer wieder Donner und Blitze, immer wieder die Tagesschau, immer wieder Tatort. Durch dieses Immer Wieder, durch die Tatsache, daß wir in diese Welt des Immer-Wieders geboren werden, ist der Mesokosmos alltäglicher Substanzen und Akzidenzien für uns ein intelligibles Ganzes. Sie ist eine Welt, worin alles gut zusammenstimmt.

Seit Aristoteles hat die bikategoriale Ontologie von Substanzen und Akzidenzien (oder allgemeiner: von beharrenden und sich ereignenden Gegenständen) und ihren Spezies und Genera die Geschichte der Ontologie dominiert. Für die Tradition waren diese zwei Kategorien sowohl ausreichend als auch gegenseitig ausschließend: nichts könnte die Kluft zwischen beiden überspannen. Hier werden wir allerdings behaupten, daß gerade Umwelten diese Kluft überspannen können. Sie sind 'transkategorial' in dem Sinn, daß sie Teile enthalten und integrieren, die zu verschiedenen Kategorien gehören. Erst vor diesem Hintergrund werden wir die Eigenart sozialer Objekte verstehen können.

Artefakte wie Rechner und Schiffe sind Gegenstände, die substantielle Teile haben, die aber selbst integrierte Ganze darstellen. Artefakte haben wie einfache Substanzen scharfe Grenzen. Sie sind gut von ihren Nachbargegenständen abgetrennt. Es gibt aber auch quasi-integrierte Ganzheiten, die weder vollständige Integrität noch vollständige Abtrennung genießen. Beispiele sind: Strände, Flußdelten, Gebüsche, Gebirgszüge. Eine dritte Gruppe von Kollektivgegenständen mit substantiellen Teilen sind soziale Kollektive. Beispiele sind: Familien, Stämme, Nationen, Orchester, Schachclubs, Mannschaften, sowie auch solch mehr oder weniger kurzlebige soziale Gruppierungen, die entstehen, wo Fremde sich formal vorstellen oder auf der Tanzfläche zu Paaren zusammenstellen. (10)

Wie Soziologen erkannt haben, bilden solche sozialen Kollektive eine neue Seinsdimension innerhalb des Mesokosmos menschlichen Verhaltens. Sie sind in manchen Hinsichten Personen analog. Sie haben ihr eigenes Leben, sie beharren in der Zeit, sie haben ihre eigenen Qualitäten und Zustände und ihre eigene Arten des Funktionierens und des Interagierens. Soziale Kollektive sind daher von beliebigen Aggregaten streng zu unterscheiden.
 

Generische Abhängigkeit

Soziale Kollektive sind weiter generisch von ihren Mitgliedern oder Trägern abhängig. Sie können Mitglieder gewinnen und verlieren, ohne daß ihre Identität dadurch geändert wird.

x ist generisch abhängig von Gegenständen des Typs T gdw. x notwendigerweise von der Art ist, daß es nicht existieren kann, ohne daß irgendwelche Gegenstände des Typs T existieren.
Eine Nische ist ebenfalls generisch von den Tieren abhängig, die in ihr leben. Städte, Universitäten, und Körperschaften generell haben die Fähigkeit, daß sie in der Zeit beharren können trotz eines (manchmal beabsichtigten) Wechsels ihrer Bestandteile. Sprachen, Religionen, Rechtssysteme und viele institutionelle Objekte sind auch von der Art, daß ihre Existenz nicht von der Existenz spezifischer Individuen oder Gruppen abhängt, sondern generisch von der Existenz irgendwelcher befähigter Individuen oder Gruppen, die gewisse Rollen innerhalb des Ganzen erfüllen. Die generische Abhängigkeit ist dementsprechend charakteristisch für soziale Objekte vieler verschiedener Typen.Ein König ist von seinen Subjekten abhängig, aber sie müssen nicht diese Subjekte sein. Ein Richter muß den Fall entscheiden, aber es muß nicht dieser Richter sein. Die Hauptstadt muß irgendwo liegen, aber sie muß nicht an genau dieser Stelle liegen (und zu Kriegszeiten kann sie auch verlegt werden).
 

Bestimmungsgegenstände ("Fiat Objects")

Soziale Objekte sind durch Einzelpersonen als ihre Träger fundiert. Sie sind existentiell von Einzelpersonen abhängig. In der ontologischen Behandlung dieser Abhängigkeit müssen wir allerdings streng unterscheiden zwischen der Frage nach dem Beginn der Existenz von sozialen Objekten und Fragen, die mit der Weiterexistenz, mit dem Beharren von sozialen Objekten zu tun haben. Was den existentiellen Anfang von sozialen Objekten angeht, bemerken wir, das solche Objekte normalerweise Produkte von gewissen menschlichen (rechtlichen, legislativen) Bestimmungen sind - ein Wahrheitskörnchen der verschiedenen Vertragstheorien politischer Institutionen, die wir seit Hobbes und Rousseau kennen. Soziale Objekte wie politische Institutionen kommen in die Welt sehr oft nicht durch organische, natürliche, graduelle Prozesse, sondern als voll ausgeformte Wesen, und die Veränderungen, die sie danach erleben, sind sehr oft von einer nicht-graduellen Natur. Die Existenz des US-Bundesstaates Wyoming beginnt im Jahre 1890 mit einen Erlaß der amerikanischen Regierung, und als soziales Objekt existiert er auf unbestimmte Zeit unverändert fort. 

In dieser Hinsicht ähneln einige soziale Objekte abstrakten Gegenständen wie geometrischen Gebilden. Sie sind nicht wirkliche Gegenstände, die in Kausalzusammenhänge direkt mitverwickelt wären und die kontinuierlichen physischen Veränderungen unterworfen sind. Vielmehr sind sie sehr oft von der Art, daß die einzigen Veränderungen, die sie erleben, darin bestehen, daß sie zu existieren beginnen und daß sie zu existieren aufhören. Diese Eigentümlichkeit der relativen Isoliertheit von konkreten kausal-energetischen Geschehnissen findet sich am klarsten bei solchen sozialen Objekten wie Ansprüchen, Verbindlichkeiten, Schulden, Besitzverhältnissen, Ämtern, Titeln, udgl. In solchen Fällen haben wir es mit Objekten zu tun, 'was - wenn es wird - nicht gewirkt wird und wenn es vergeht, nicht direkt infolge des Aufhörens eines Wirkens vergeht.' (11) Die in diesem Sinn nicht-wirklichen Gegenstände des sozialen Bereichs sind aber nicht geschichtslos: sie existieren in der Zeit, und zwar in derselben Zeit wie Menschen selbst. (Man erinnert sich an Leibniz' Begriff eines Aggregats als eine nicht-wirkliche phaenomena bene fundata, das weder unter den Substanzen noch unter den Akzidenzien einzuordnen ist.) 

Soziale Objekte sind also durch eine generische Abhängigkeit und wenigstens in gewissen Fällen durch eine relative Isoliertheit von kausalen Geschehnissen gekennzeichnet. Können wir demgemäß eine zwei-Schichten-Struktur der Alltagswelt menschlichen Verhaltens annehmen, mit realen kontinuierlich sich verändernden Dingen (vor allem Menschen) auf der unteren Ebene, und sozialen Kollektivgegenständen auf der oberen Ebene (ein Fall von 'Supervenienz'). Eine derartige Auffassung finden wir bei Searle in seiner Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit, wo die obere, abstrakte Schicht von 'institutionellen Tatsachen' sozusagen über die konkrete Welt von menschlichen Tätigkeiten, Gewohnheiten, Glaubenszuständen u. dgl. schwebt. Das Problem einer solchen Auffassung ist, daß sie die Tatsache schwer erklärbar macht, daß es Interaktionen zwischen den beiden Schichten in beiden Richtungen gibt. Unser Verhalten als kausal-energetische Wesen ist doch in vielfacher Hinsicht durch unsere Partizipation in sozialen Objekten in einer Weise beeinflußt, die eine Auffassung letzterer als bloße abstrakte Wiederspiegelungen der ihnen unterliegenden kausalen Geschehnisse auszuschließen scheint. Wie können wir aber die Tatsache, daß soziale Objekte durch rechtliche Bestimmungen, durch bloße Erlasse in die Welt kommen, in Einklang mit der Tatsache bringen, daß sie die Fähigkeit haben, unser Verhalten zu bestimmen und zu erzwingen (das Problem der Normativität von Normen)?

Ontologie des Mesokosmos

Soziale Objekte sind Geschöpfe der mesoskopischen Wirklichkeit, die wir auch die Welt des Common-sense nennen können. (12) Diese ist eine Welt in der Menschen arbeiten, essen, schlafen, sprechen, beurteilen, bewerten, eine Welt von Tieren, Tischen, Kleidern, von Süß und Sauer, von Rot und Grün, Warm und Kalt. Diese Common-sense-Welt ist vor allem eine Welt von Dingen, die wir in der Erfüllung verschiedener praktischer Zwecke verwenden.

Zur Common-sense-Welt gehören auch die Medien (Wasser, Rauch), worin die Dinge sich bewegen. (13) Zur Common-sense-Welt gehören aber vor allem auch die Umwelten, die Nischen, in denen wir unsere alltäglichen Aufgaben ausführen. Was ich jetzt behaupten möchte ist, daß genauso wie die Gesamtheit von Substanzen und Akzidenzien in natürliche Arten und Spezies eingeteilt ist, es auch bei den verschiedenen Nischen unseres alltäglichen Verhaltens eine ähnliche Einteilung in Arten und Spezies von Nischen gibt. Die Common-sense-Welt ist nicht nur in intelligibler Weise in Spezies und Genera von Dingen, Qualitäten, Vorgängen eingeteilt, sondern auch in Spezies und Genera von Nischen, von sozialen und institutionellen Kontexten, von Verhaltensrahmen, Settings, worin wir Menschen als Teilnehmer verflochten sind. Es gibt immer wieder Fußballspiele, immer wieder Hochzeiten, immer wieder philosophische Vorträge. Es ist dann nicht so als ob wir Menschen auf der einen Seite und dingliche Verhaltenskontexte auf der anderen hätten, als ob die Kluft dazwischen etwa durch ein Verhältnis 'Intentionalität' zu überbrücken wäre. Vielmehr sind sowohl wir Menschen selbst als auch die physischen Gegenstände unseres alltäglichen Tuns und Lassens in solchen Verhaltenskontexten zusammengebunden. 

Verhaltenskontexte sind Entitäten einer neuen Kategorie, die die Welt mesoskopischer Dinge und Geschehnisse durch und durch prägen. Der amerikanische Psychologe Roger Barker, wie Gibson Vertreter der sogenannten 'ökologischen Psychologie', nennt sie 'behavior settings' oder auch 'physical-behavioral units' (physisch-behaviorale Einheiten), um die Tatsache in den Vordergrund zu rücken, daß Verhaltenskontexte sowohl eine physische Seite haben (die Seite der Umweltgegenstände, Zimmer, Tische, Stühle, Gänge, Zäune, usw.), wie auch eine Seite des menschlichen Verhaltens. 

Barker war Schüler des Gestaltpsychologen Kurt Lewin und arbeitete zuerst als Assistent in der von Lewin gegründeten Child Welfare Station in Iowa. Die Arten von physisch-behavioralen Einheiten, die durch Barker besonders favorisiert wurden, waren dementsprechend: Wendys Geometriestunde am Freitag Nachmittag, Franks tägliche Turnübung, das wöchentliche Treffen des Schachclubs. Solche Verhaltenskontexte wiederholen sich. Sie kommen immer wieder. Sie sind ferner, um mit Barker zu sprechen, 'ganz gewöhnliche phänomenale Entitäten, natürliche Einheiten, die in keiner Weise durch einen Ermittler aufoktroyiert werden. Den Laien sind sie genau so objektiv wie Flüsse und Wälder - sie sind Teile der objektiven Umwelt, die direkt erlebt werden wie Regen und Strände.' (14)

Physisch-behaviorale Einheiten sind Teile der Wirklichkeit, die von unüberschätzbarer Bedeutung für das Verständnis menschlichen Lebens sind, da fast alle Formen menschlichen Verhaltens sich in ihrem Rahmen ereignen. Alle Rollen werden in einem entsprechenden Verhaltenskontext gespielt. Jedes Walten eines Amtes besteht nur im Rahmen eines solchen. Alle Organisationen sind aus physisch-behavioralen Einheiten aufgebaut. Jede künstlerische Tätigkeit existiert als solche nur mit und in einem durch sie geschaffenen Setting. Jeder hermeneutische Umgang mit einem Text setzt die Bezugnahme auf relevante Kontexte voraus, die ebenfalls mit Hilfe des Begriffs einer physisch-behavioralen Einheit zu behandelbaren Gegenstände der Forschung gemacht werden können. Alle Biographien sind als eine Folge von physisch-behavioralen Einheiten geordnet. Auch das Gehen oder das Fahren von einem Ort (Verhaltenskontext) zu einem anderen ist in die Kategorie der physisch-behavioralen Einheiten einzuordnen. Nur in den ganz seltenen Augenblicken der totalen Desorientiertheit kann es erscheinen, daß wir von allen physisch-behavioralen Einheiten befreit sind. Das heißt aber, daß wir uns gerade in bezug auf Entitäten dieser Kategorie in den normalen Fällen orientieren.
 

Vorgeschichte der physisch-behavioralen Einheiten

Kurt Lewin, Fritz Heider, Karl Bühler, Egon Brunswik und andere Gestaltpsychologen der zweiten Generation haben wichtige Fortschritte in Richtung einer Ontologie der Umwelt des menschlichen Verhaltens gemacht. Abgesehen von gewissen Passagen in den Schriften Heideggers und der von ihm beeinflußten französischen Existentialisten waren Verhaltenskontexte allerdings unter Philosophen fast völlig vernachlässigt - wieder eine Konsequenz der Bevorzugung seitens der philosophischen Tradition von episteme gegenüber doxa. Verhaltenskontexte wie: meine Abendsuppe, Wolfgangs Besuch in der Autowerkstatt, gehören par excellence dem ('uneigentlichen') Bereich bloßer Meinungen an. Daher ist man zu dem Schluß gekommen, daß Objekte dieses Typs entweder einer wissenschaftlichen Behandlung nicht fähig sind (Heidegger), oder daß sie überhaupt nicht existieren (Quine).

Die Philosophen der Tradition hatten desweiteren oftmals eine Vorliebe für verhältnismäßig einfache ontologische Systeme gekennzeichnet, und sie tendierten auch dazu, Ontologien zu entwickeln, die den Rahmen der aristotelischen Kategorientafel nicht sprengen würden. Wie jetzt schon klar sein wird, physisch-behaviorale Einheiten sind radikal transkategoriale Einheiten: Sie überspringen die kategoriale Grenze zwischen Substanz und Akzidens. Und weil sie in keine der beiden Seinsordnungen eingeordnet werden konnten, wurden sie in der Tradition vernachlässigt. Auch die sogenannten 'Ordinary Language Philosophers' der Jahrhundertmitte, die den Ehrgeiz hatten, den Common-sense Bereich in den Griff zu bekommen, haben Auffassungen entwickelt, die die Gegenstände dieses transkategorialen Bereichs im Rahmen einer monokategorialen Theorie zu verstehen versuchen, die die Sprache als zentrales organisierendes Moment des Common-sense Bereichs hinstellt. In der Tat allerdings, wie Wittgenstein bemerkt hat, ist die Sprache ein Phänomen, das selbst kohärenterweise erst im Rahmen einer Ontologie von Verhaltenskontexten erklärt werden könnte: 'eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.' '… das Sprechen der Sprache [ist] ein Teil einer Tätigkeit, oder einer Lebensform' (15) Verhaltenskontexte und der Mesokosmos sozialen Verhaltens sind viel älter als die Sprache. Die Alltagswelt dieses Verhaltens unter ihrem linguistischen Aspekt erklären zu wollen, heißt, das Ganze erklären zu wollen unter dem Aspekt einer seiner verhältnismäßig spät entwickelten Teile.
 

Ontologie von physisch-behavioralen Einheiten

Jeder Verhaltenskontext hat zwei Sorten von Bestandteilen: Menschen, die sich so und so verhalten (beim Vortragen, Zuhören, Essen, Fahren), und physische Gegenstände, die mit diesem Verhalten assoziiert werden (Stühle, Wiesen, Angelruten, Skalpelle). Jeder Verhaltenskontext hat eine mehr oder weniger wohldefinierte Grenze, die ein organisiertes internes Vordergrundmuster von einem externen Hintergrund (einem 'Horizont', um mit Husserl zu sprechen) trennt. Auch diese Grenze ist ein Teil der objektiven Wirklichkeit. Die Grenze kann sowohl räumlich als auch zeitlich sein. (Schüler und Lehrer sind im Klassenzimmer. Das Rennen beginnt um 10 Uhr morgens, das Geschäft schließt um 8 Uhr abends.) Die Grenze eines Verhaltenskontexts umfaßt physisch ein gewisses Stück Welt (einen Fußballplatz, einen Tisch in der Mensa, ein Krankenbett). Auf der Verhaltensseite umfaßt sie nur Verhalten gewisser Formen oder Muster und schließt fremdes Verhalten aus, das nichts mit der gegebenen Verhaltenseinheit zu tun hat. Ein Niesen seitens des Bräutigams gehört nicht zum Verhaltenskontext einer Hochzeitszeremonie. 

Die ökologischen Nischen der Tierwelt sind komplexe natürliche Gebilde, Verhaltenskontexte wie politische Sitzungen oder Symphoniekonzerte sind dagegen zum größeren Teil Artefakte. Wie Barker es formulierte:

Das Modell einer Maschine scheint eher geeignet als das Modell eines Organismus oder einer Person, um das Geschehen [im Bereich der Verhaltenskontexte] darzustellen. Ein Verhaltenskontext kann z. B. 'abgeschaltet' und auseinandergenommen werden nach dem Willen des Leiters oder des Vorsitzenden. Letzterer kann die Sitzung (für eine Kaffeepause) unterbrechen und sie dann wieder zur Ordnung rufen. Im auseinandergenommenen Zustand können einige Teile reguliert werden (ein Teilnehmer ersetzt werden). Individuen haben keine psychologischen Eigenschaften wie diese. (16)
Die zeitlichen Gestalten vieler Verhaltenskontexte sind daher wesentlich anders als die zeitlichen Gestalten individueller Leben und Erfahrungen.

Auf der anderen Seite zeigen Verhaltenskontexte eine Widerstands- und Überlebensfähigkeit, die sehr ähnlich ist mit dem, welchem man im biologischen Bereich begegnet. Verhaltenskontexte sind oft selbstregulierend. Sie führen ihre Teilnehmer zu spezifischen charakteristischen Zuständen und sie schützen diese Zustände innerhalb eines begrenzten Bereichs von möglichen Änderungen vor externen Störungen. Kleine Änderungen innerhalb gegebener Dimensionen können ohne Schaden für das Weiterbestehen eines Verhaltenskontexts dieses Types verkraftet werden. Das Gesamtverhalten, das die relevante Einheit ausmacht, z. B. eines akademischen Vortrags, kann nicht grosso modo geändert werden, ohne daß es gänzlich zerstört wird. Der Vortragende darf nicht singen oder sich selbst Beifall klatschen. Er darf nicht zu viele Witze erzählen. Die Sitzung muß eine Einleitung haben, die möglichst vor dem Vortrag, eine Diskussion, die möglichst nach dem Vortrag stattfinden sollte. Die Sitzung hat darüber hinaus eine hierarchische Struktur ineinandergeschachtelter Subteile: es gibt verschiedene Teilnehmer mit bestimmten Rollen: Vorsitzende, Vortragende, Zuhörer, usw.; es gibt verschiedene Teile des Vortrags selbst: Sektionen, Absätze, einzelne Sätze, Worte, usw. Wie im Bereich der Substanzen und Akzidenzien, so auch im Bereich der Verhaltenskontexte bezeugen die Gebilde, mit denen wir zu tun haben, die Struktur eines mehrschichtigen Montagebaus mehr oder weniger ersetzbarer Bestandteile.
 

Die systematische reziproke Anpassung zwischen Verhalten und Nische

Ein Verhaltenskontext ist eine Einheit. Seine Teile sind vereinigt, nicht aber durch irgendwelche Ähnlichkeit oder substantielle Gemeinschaft, sondern durch eine Verwobenheit der verschiedenen Teile ineinander, sowohl der physischen als auch der behavioralen, in einer Weise, daß sie zusammen ein bestimmtes Schema formen, das in keiner Hinsicht willkürlich ist. Es herrscht wieder ein Verhältnis der gegenseitigen Anpassung zwischen den typischen Verhaltensmustern, die sich im gegebenen Verhaltenskontext ereignen, und der Anordnung seiner physischen Bestandteile. Die Sitzplätze in der Aula sind in Richtung auf die Sprecherin angeordnet, die ihre Bemerkungen an die Zuhörer richtet. Die Grenze des Fußballplatzes ist, abgesehen von einigen vorgeschriebenen Ausnahmen, auch die Grenze des Spielverhaltens. Diese gegenseitige Anpassung von Verhalten und physischer Umwelt bezieht sich auf die feine innere Struktur des Verhaltens in einer Weise, die eine radikale Nichttransponierbarkeit gewöhnlicher Verhaltensmuster von einer Umwelt in eine andere mit sich bringt. Die physischen (historischen, zeremoniellen) Bedingungen, die an gegebenen Orten verwirklicht werden, sind darüberhinaus für gewisse Verhaltenstypen wesentlich, wie auch spezifische Personen mit spezifischen Motivationen oder Fähigkeiten wesentlich sein können.

Es gibt verschiedene Kräfte, die dazu beitragen, daß diese gegenseitige Anpassung zustande kommt und sich in einer Weise bewahrt, die die Integrität der physisch-behavioralen Einheit durch die Zeit aufrechterhält. Diese Kräfte bestehen darin, daß der Verhaltenskontext als physische Struktur die in ihm beheimateten Verhaltensabläufe bestimmt, etwa dadurch, daß Zäune oder Gänge oder klimatische oder topographische Aspekte der gegebenen Umgebung die möglichen Bewegungen seitens der Teilnehmer einschränken. Die physische Welt liefert dadurch, daß sie die Nischen unserem Verhalten bereitstellt, ein System von Gleisen für die routinisierten Aspekte unseres Lebens.
 

Hierarchische Struktur Transkategorialität und generische Abhängigkeit physisch-behavioraler Einheiten

Viele physisch-behaviorale Einheiten treten in Montagebaustrukturen auf, wie vergleichsweise ein Kükenembryo als eine eingenistete Hierachie von Organen, Zellen, Kernen, Molekülen, Atomen, und subatomaren Teilchen aufgebaut ist. Hier allerdings ist die Montagebaustruktur eine doppelte: sowohl die physischen Teile einer gegebenen physisch-behavioralen Einheit als auch die assoziierten stabilen Verhaltensmuster seitens der teilnehmenden Personen sind in den Standardfällen Unterteilungen in weitere Einheiten fähig, die ihre eigenen mehr oder weniger bestimmten Grenzen innerhalb des Gesamtkontextes haben. Eine Einheit im Mittelbereich einer solchen Montagebaustruktur ist sowohl Ganzes als auch Teil, sowohl Ding für die es umschließende Nische als auch Umwelt für die Untereinheiten, die sie enthält. Die erste Strophe ist Teil des ersten Satzes, der erste Satz Teil der ganzen Symphonie, die Symphonie Teil des ganzen Konzerts. Ein lächelnder Mund lächelt nur in einem menschlichen Gesicht. 

Eine physisch-behaviorale Einheit ist eine transkategoriale Struktur. Schon einfache Ereignisse können manchmal sehr komplex sein. Betrachten wir z. B. einen Akt des Versprechens. Dieser enthält Teile von sprachlicher, psychologischer, rechtlicher und ethischer Natur sowie rein physische Teile (wie Luftschwingungen sowie chemische und elektrische Prozesse im Gehirn). Eine physisch-behaviorale Einheit wie eine Messe, eine Gemeinderatssitzung oder die Inthronisation eines Archiepiskopos ist eine viel komplexere Zusammensetzung von Personen, Orten, Zeiten, Handlungen und Gegenständen. Sie umschließt außerdem noch vielerlei nicht-physische Bestandteile, wie z. B. sprachliche und rechtliche Elemente, Werte und Normen, alle in ganz spezifischen Weisen mit den anderen Elementen zusammenkombiniert. Die mitverwickelten Bestandteile sind dann nicht nur in ihrer materiellen Konstitution vielfältig sondern auch in ihrer kategorischen Form: sie beinhalten Substanzen, Ereignisse, Handlungen, Zustände, und mannigfaltige Relationen zwischen diesen.Wie Barker schreibt:

Die begriffliche Inkommensurabilität der Phänomene, so sehr ein Hindernis für die Vereinheitlichung der Wissenschaften, scheint die Einheiten der Natur nicht zu stören. In den größeren Einheiten sind Dinge und Ereignisse von begrifflich immer entfernteren Wissenschaften aufgenommen und reguliert. (17)

Was unser Verhalten angeht, muß also auch die radikalste Diversität der Genera und Kategorien die Integration nicht verhindern.
 

Personen als soziale Objekte

Das Verhältnis zwischen Teilnehmer und Verhaltenskontext ist eines der reziproken Kodetermination. Jede teilnehmende Person hat zwei Stellen innerhalb des Ganzen: 1. ist sie ein Bestandteil, und erbringt dadurch einen Beitrag zum Aufbau des Ganzen; 2. ist sie ein Individuum, dessen Verhalten und dessen Eigenart als teilnehmendes soziales Objekt teilweise durch dieses Ganze geformt ist. Die Person ist gefärbt und gestaltet, ist zutiefst geprägt durch ihren augenblicklichen Verhaltenskontext. Und weil dieser Kontext sich ständig ändert folgt auch, daß eine und dieselbe Person 
viele Stärken, viele Intelligenzen, viele Grade der sozialen Reife, viele Auffassungsgeschwindigkeiten, viele Grade der Liberalität und des Konservatismus, viele Grade der Moralität aufweist, äbhängig zum großen Teil vom jeweiligen Kontext ihres Verhaltens. Dieselbe Person, die eine markante Einfältigkeit z. B. gegenüber einem mechanischen Problem hat, mag eine beeindruckende Fertigkeit und Geschicklichkeit in gesellschaftlichen Situationen zeigen. (18)
Eine menschliche Gesellschaft besteht schon aus diesem Grund nicht aus Menschen als Einzelteilen, die wie Atome voneinander getrennt existieren würden. Sie besteht vielmehr aus Menschen, die in verschiedenen Weisen miteinander verwoben sind. Dasselbe Individuum tritt immer wieder in verschiedenen Rollen auf, je nach seinen verschiedenen sozialen - religiösen, politischen, familiären - Angliederungen.
 

Zusammenfassung

Unsere Theorie von sozialen Objekten können wir nun zusammenfassen. Es gibt physisch-behaviorale Einheiten: bekannte, reguläre, sich immer wiederholende Verhaltensmuster, die unser alltägliches Leben bestimmen. Diese physisch-behavioralen Einheiten bilden die Schlüsselkategorie für ein Verständnis sozialer Objekte insgesamt. Solche physisch-behavioralen Einheiten sind genauso ein Teil der Wirklichkeit wie die mesoskopischen Substanzen und Akzidenzien, die in ihnen eingenistet sind. Auch soziale Objekte anderer Arten - gefällte Urteile, verliehene Auszeichungen, beantwortete Fragen - existieren nur im Rahmen von physisch-behavioralen Einheiten. In diesem Sinn, möchte ich behaupten, bildet die Kategorie physisch-behavioraler Einheiten das zentrale organisierende Prinzip des Raums sozialer Phänomene.
 
 

Literatur

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Searle, John R. 1995 The Construction of Social Reality, New York: Free Press (dt.: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Hamburg: Rowohlt, 1997).

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Uexküll, Jakob von 1928 Theoretische Biologie, Berlin: J. Springer.

Wittgenstein, Ludwig 1984 Werkausgabe, Band I, Frankfurt: Suhrkamp.
 

Fußnoten

1. Searle 1995, S. 24.

2. Husserl 1952, S. 185.

3. Scheler 1954, S. 158f.

4. Vgl. Uexküll 1928.

5. Vgl. Gibson 1986, S. 101.

6. Merleau-Ponty 1966, S. 175.

7. Merleau-Ponty, a.a.O.

8. Krisis, Beilage III, Hua VI, S. 382.

9. Vgl. Smith und Varzi 1998.

10. Vgl. Gilbert 1989, 1993.

11. Marty 1908, S. 321.

12. Vgl. Smith 1994, 1995.

13. Vgl. Heider 1926.

14. Barker 1968, S. 11.

15. Wittgenstein 1984, S. 241f., 250.

16. Barker 1978, S. 34f.

17. Barker 1968, S. 155.

18. Schoggen 1989, S. 7.