Zum Wesen des Common sense:
Aristoteles und die naive Physik



Barry Smith


Zeitschrift für philosophische Forschung, 46/4, 1992, 508-525.




In der Antike kannte man zwei Arten der Physik. Auf der einen Seite gab es die Astronomie, die durch die Verwendung exakter mathematischer Prinzipien gekennzeichnet ist; auf der anderen Seite gab es die Physik in der eigentlichen Bedeutung des Wortes, eine Wissenschaft, die vielfach mit dem zusammenfällt, was wir heute `Metaphysik' nennen. Während die Astronomie mit dem Bereich des Himmlischen und des Unvergänglichen zu tun hat, handelt die Physik vom Bereich des Sublunarischen, von den irdischen Dingen, die entstehen und vergehen, sowie von ihren Bewegungen. Der Physiker ist mit der Natur der Dinge vertraut, von denen er spricht, und daher versteht er auch die Ursachen ihrer Bewegungen. Der Astronom kann dagegen nur mittelbar mit Hilfe seines mathematischen Instrumentariums an die Geschehnisse herankommen, die ihn interessieren, und er wird ihre eigentlichen Ursachen nie bestimmen können.

Wie Proklos es formulierte, ist die sublunarische Physik dem Menschengeist zugänglich wurde sie doch seiner Meinung nach vollständig durch Aristoteles selbst ausgearbeitet. Die Physik des Himmels dagegen ist `voller Mysterien', und Gott hat das Wissen darüber für sich behalten. (1)

Diese bis zum Mittelalter gängige Auffassung findet man vielleicht am prägnantesten bei Maimonides in seinem Führer der Zweifelnden

Alles, was Aristoteles von den Dingen unterhalb der Mondsphäre gesagt hat, [entspricht] einer strengen Schlußfolgerung, und dies sind Dinge, deren Ursachen man kennt und die einander notwendig bedingen . . . Hingegen weiß von dem, was im Himmel ist, kein Mensch etwas außer dem geringen mathematischen Ausmaße. (2)
Zwar gab es im 14. Jahrhundert z.B. bei den sog. `Calculatores' in Oxford (Bradwardine, Heytesbury, Swineshead usw.) Gedankenexperimente in Richtung auf eine einheitliche, mathematisch aufgebaute Naturphilosophie. Die Schriften der Calculatores haben aber in erster Linie eine logische und pädagogische Aufgabe; die einheitliche physikalische Welt, die dort mit mathematischen Mitteln beschrieben wird, ist bewußt und absichtlich als ein imaginärer Fall dargestellt, und nicht als etwas, dem Realität zukommen würde. (3)

Erst Kopernikus wagte es, die Erde den anderen Planeten gleichzustellen, und erst seit der Renaissance beginnt die Auffassung an Gültigkeit zu gewinnen, daß alle physikalischen Geschehnisse durch ein und dasselbe System dynamischer Postulate zu erklären seien. Diese Auffassung wurde bekanntlich vor allem durch Galilei und Newton gefestigt und gilt bis heute als ein Gemeinplatz sowohl der Philosophie als auch der Wissenschaft der natürlichen Welt. Ich möchte aber im folgenden zeigen, daß wir jetzt aus eher unerwarteten Gründe zur alten dualistischen Auffassung zurückkehren und uns nicht mehr vom alleinigen Vorrecht der nachgalileischen Physik leiten sollten.
 

Das Salatproblem

Stellen wir uns vor, daß wir einen Roboter bauen möchten, der in der Lage wäre, uns beispielsweise einen Salat vom Salat-Buffet des nächstgelegenen Restaurants zu holen. Der Roboter muß zunächst in der Lage sein, sich über die Straße und durch das Restaurant zu bewegen, er muß Hindernisse wie Tische, Stühle und Menschen erkennen und ihnen aus dem Wege gehen können, er muß Tomaten und Gurken erkennen und greifen und in Bewegung bringen können, ohne daß sie zerquetscht werden, er muß Öl und Essig im richtigen Verhältnis mischen und in der richtigen Menge über den Salat gießen können und vieles andere mehr.

Alle diese Tätigkeiten setzen voraus, daß die relevanten Inputdaten irgendwie durch den Roboter gesammelt und entsprechende Kalkulationen vorgenommen werden, deren Ergebnisse sein weiteres Handeln dann bestimmen müßten. Das Holen von Salat muß er in unübersehbar viele mathematische Gleichungen zerlegen, die er dann nach Maximierungsprinzipien zu lösen hätte. Und obwohl die Wissenschaft der Robotik noch im Anfangsstadium ist, wissen wir schon ziemlich viel darüber, welche Schwierigkeiten bei der Gewinnung der entsprechenden Daten entstehen und welcher Größenordnung die nötigen Kalkulationen sein müßten, um die gegebene Aufgabe erfüllen zu können. Wir können vor allem feststellen, daß mit den rechnerischen Mitteln, die dem Roboter zur Verfügung stehen, oder stehen können, solche Kalkulationen, auch wenn die entsprechenden Gleichungen überhaupt lösbar wären, in der gegebenen Zeit einfach nicht durchführbar wären. Es wäre dem Roboter schlicht unmöglich, gerade jene Information herauszukristallisieren, die in einer sich ständig ändernden Welt für sein zukünftiges Handeln von Bedeutung wäre. 

Schon vor Galilei konnte sich aber der Mensch verhältnismäßig problemlos einen Salat von einem Salat-Buffet holen. Damals wie jetzt wurde er mit keinen derartigen rechnerischen Schwierigkeiten konfrontiert. Es hat also den Anschein, als setzte der Mensch bei seinem Durchgang durch die Welt eine andere, eine gröbere Physik ein als es die moderne quantitative Physik der gängigen Lehrbücher ist. Und mit dieser seiner Physik ist der Mensch in der Lage, die physikalischen Probleme, die ihn konfrontieren, mehr oder weniger spontan zu lösen. 

Diese grobe, auf die Strukturen unserer Alltagswelt gleichsam zugeschnittene Physik setzt der Mensch nicht nur beim Sichbewegen und beim Sichorientieren in der Alltagswelt ein, sondern z.B. auch dann, wenn er Berichte über diese Alltagswelt zu verstehen oder auszulegen hat, oder wenn er selbst solche Berichte formulieren muß. Dies deutet darauf hin, daß der Mensch in der Lage ist, sein naiv-physikalisches Wissen nicht nur sozusagen unbewußt und in actu motus zu verwirklichen, sondern auch in der Gestalt explizit formulierbarer Sätze. Wir haben es also nicht nur mit einem rein praktischen Wissen, mit einem nicht-intelligenten Können des Menschen, sondern auch mit echtem Wissen daß zu tun, bezüglich dessen wir begründete Hoffnung haben dürfen, ihm durch Verfeinerung und Verbesserung die Form einer systematischen Theorie geben zu können. 
 

Die naive Physik

In der neuen künstlichen Intelligenzforschung bemüht man sich daher intensiv, das menschliche Wissen über die physikalischen Eigenschaften unserer Alltagsrealität in einer Weise zu ermitteln, die es erlauben würde, die entsprechenden Fähigkeiten des Menschen auch seitens eines Roboters zu simulieren. Die Früchte dieser Bemühungen zeigen sich z.B. in der sogenannten `qualitative physics' von Kleer und Brown, (4) in der `common-sense metaphysics' von Hobbs u.a., (5) und in der `naiven Physik' von Patrick Hayes, vor allem in seinem "Naive Physics Manifesto", (6) das uns im folgenden, stellvertretend für ein ganzes Genre, zunächst beschäftigen soll.

Sowohl aus psychologischen wie auch aus rechnerischen (und d.h. letztendlich mathematischen) Überlegungen gehen diese Wissenschaftler davon aus, daß es nicht die nachgalileische, quantitative Physik ist, die den menschlichen Organismus in seinen alltäglichen Bewegungen durch die Welt führt, sondern gerade eine qualitative Physik der Art, wie man sie vor Galilei kannte. (7) Bei der Feststellung z.B., welches die verschiedenen Typen und die verschiedenen statischen und dynamischen Eigenschaften der Körper sind, denen wir in unseren alltäglichen Tätigkeiten begegnen und die für unser tägliches Handeln relevant sind, verwenden wir unwissentlich Gesetze und Regeln, die schon in den physischen und metaphysischen Schriften von Aristoteles oder Buridan ausgearbeitet wurden. (8) Die klassische Metaphysik gewinnt hierbei sogar für die industriellen Zwecke des heutigen Software-Ingenieurs und des Roboterkonstrukteurs eine bisher unerwartete Bedeutung. 

In der Hayesschen naiven Physik, die in der Sprache der Prädikatenlogik erster Stufe formuliert wird, werden die Prädikate zunächst in tentativer Weise in verschiedene Unterfamilien gruppiert, die eigene Zweige der naiv-physikalischen Disziplin ausmachen sollen. Solche Unterfamilien gibt es z.B. in bezug auf (1) Gegenstände (Dinge, Substanzen, Körper sowie ihre Teile), (2) Quantitäten und Maße, (3) Qualitäten, (4) Ort und Lage, (5) Veränderung und Zeit, (6) Energie, Wirkung und Bewegung, und (7) Stoff und Materie (einschließlich Flüssigkeiten). Für jede Prädikatengruppe werden dann, nicht zuletzt durch systematische Introspektion, intuitiv annehmbare Axiome gesucht.

Betrachten wir etwa die Hayessche Prädikatenfamilie, die mit Orten und räumlichen Lagen zu tun hat. Hier finden wir Begriffe wie: `auf', `in', `an', `Innen', `Außen', `Mauer', `Grenze', `Behälter', `Hindernis', `Barriere', `Reibung', `Stützung', `Schwere', `Festigkeit', `Spannung', `Belastung', usw., die miteinander in nicht trivialer Weise axiomatisch zu verbinden wären. Hayes rechnet damit, daß er um die hunderttausend Prädikate brauchen würde, um das Gebäude seiner Theorie vollständig errichten zu können.
 

Die Objektivität der Alltagsrealität

Die Vertreter der Wissenschaft der naiven Physik glauben nun hiermit eine leistungsfähige Grundlage für die Lösung jener Probleme beibringen zu können, denen man in der Robotik begegnet. Ich möchte vorerst dahingestellt lassen, ob wir ihre diesbezüglichen Hoffnungen teilen sollen. Schon die bisher erzielten Erfolge der modernen Verfechter der systematischen Anwendung einer Physik vorgalileischer Prägung etwa im Bereich des sogenannten `qualitativen Differentialkalküls' (9) sind aber interessant und herausfordernd genug, um klarzumachen, daß es vielleicht sinnvoll ist, wieder einmal zu den älteren Lehren des physikalisch-metaphysikalischen Alltagswissens zurückzukehren, um sie erneut vom philosophischen Gesichtspunkt aus in Betracht zu ziehen.

Es stellt sich zunächst die Frage, was dafür verantwortlich sein könnte, daß der Mensch mit seinem naiv-physikalischen Wissen bezüglich der Alltagswelt eine so beeindruckende Fähigkeit besitzt, mit Leichtigkeit die Hindernisse dieser Welt überwinden zu können. Die Antwort auf diese Frage, die ich im folgenden verteidigen möchte, lautet: Dieses naiv-physikalische Wissen ist deswegen so nützlich, weil es zu einem beträchtlichen Teil aus Wahrheiten über eine ihm entsprechende Realität besteht. 

Die meisten vorgalileischen Philosophen gingen mit Aristoteles davon aus, daß die Formen des Geistes mit den Formen der Gegenstände übereinstimmen. Unter `Formen der Welt' sind dabei natürlich solche Formen zu verstehen, in denen diese Welt uns in der normalen alltäglichen Wahrnehmungserfahrung erscheint. Es gibt zwar auch nach der aristotelischen Auffassung Irrtümer auf der Ebene der Alltagserfahrung. Sie betreffen aber nur einzelne Wahrnehmungsakte und können die Wahrheit unserer Anschauungen von den allgemeinen Zügen dieser Welt nicht belasten. Die moderne Wissenschaft dagegen postuliert hier eine Verzerrung. Dasselbe gilt übrigens für die nachkantischen Philosophien, die auf der modernen Wissenschaftsidee aufbauen und die behaupten, daß unsere Überzeugungen bezüglich der Alltagswelt, nähme man sie beim Wort, toto caelo falsch seien. 
 

Naive und nicht-naive Physik

In einer nachgalileischen Zeit kann die vorgalileische Auffassung in ihrer ursprünglichen Form natürlich nicht aufrechterhalten werden. Wir brauchen vielmehr, wie Wilfrid Sellars es formulierte, eine stereoskopische Betrachtungsweise, die fähig ist, sowohl dem modernen `scientific image' wie auch dem `manifest image' des gesunden Menschenverstands gerecht zu werden. (10) Dieses manifest image wird interessanterweise durch Sellars explizit mit der klassischen Tradition der philosophia perennis in Verbindung gebracht. Viele ihrer Prinzipien decken sich, wie Sellars bemerkt, mit den wichtigsten Prinzipien unseres Common sense-Wissens. Dies deutet erneut darauf hin, daß es eine entsprechende, in ihren gröbsten Zügen gleichermaßen immerwährende Realität gibt, die von diesem Common sense und von der ihn verfeinernden philosophia perennis beschrieben wird. Diese Realität wäre dann auch dafür verantwortlich, daß diese beiden Gedankensysteme überhaupt entstanden sind, und daß sie sich mit einer solchen Hartnäckigkeit immer wieder erhalten haben. Die naive Physik ist von diesem Standpunkt aus gesehen nur ein neuartiger Versuch, die statischen und dynamischen Strukturen dieser schon seit jeher anerkannten Realität in einem neuen theoretischen Rahmen zu beschreiben. 

Eine echte stereoskopische Betrachtungsweise müßte uns vor allem zeigen, wie diese Alltagsrealität mit jener Realität in Zusammenhang zu bringen ist, die mehr oder weniger adäquat in unseren jetzigen physikalischen Theorien erfaßt wird. Wie ich in Zusammenarbeit mit Jean Petitot anderswo zu zeigen versucht habe, (11) ist diese Alltagsrealität in einem mathematisch präzisen Sinn emergent in bezug auf jene Realität, die in den physikalischen Lehrbüchern dargestellt wird. Die Alltagsrealität gehört zwar zur eigentlichen physikalischen Welt und ist ein echter (wenn auch nicht leicht abzugrenzender) Teil davon. Die qualitativen Strukturen aber, die sie aufweist, sind vom Standpunkt der herkömmlichen quantitativen Physik aus uninteressant und werden von ihr nicht systematisch erfaßt. (12)

Diese Strukturen sind aber trotzdem (aus mathematisch erklärbaren Gründen) von hoher Stabilität. Sie sind durchaus in dem strengen Sinn `objektiv' oder `autonom', daß sie auch dann bestehen würden, wenn es keine Wesen gäbe, die sie erfaßten. (Dann gäbe es allerdings natürlich auch keinen Grund, sie aus der unendlichen Vielfalt ähnlicher physikalischer Strukturen theoretisch herauszugreifen.) Die (Teil-)Realität des gesunden Menschenverstands gäbe es m.a.W. auch dann, wenn es keine Menschen gäbe, und eine Wissenschaft wie die Paläontologie setzt sich ja zum großen Teil aus weithin wahren Behauptungen zusammen, die diese Realität betreffen, wie sie war, bevor es Menschen gab.
 

Der Einwand der Anthropologie

Ein naheliegender Einwand gegen die erwähnte realistische oder objektivistische Auffassung der Alltagsrealität kommt von der Seite der empirischen Wissenschaft der kognitiven Anthropologie. Die Vertreter dieser Wissenschaft stellen überall fest, daß es viele offenkundig falsche und sich gegenseitig widersprechende Meinungen über die Strukturen der äußeren Realität gibt, die unter verschiedenen Völkergruppen fest verankert sind.

Unserer realistischen Auffassung zufolge muß es aber möglich sein, Mittel zu finden, die es uns erlauben, solche falschen Meinungen systematisch herauszufiltern, um dadurch zu einer erheblichen Restmenge von Common sense-Wahrheiten zu gelangen, die allen vernünftigen Menschen oder vielmehr allen Menschengruppen und Kulturen gemeinsam wären. Die Anthropologen scheinen diesbezüglich zwar schwerwiegende Gründe des Skeptizismus zu liefern. Es scheint gewaltige Unterschiede zwischen den physikalischen Weltauffassungen der verschiedenen Kulturen zu geben, Unterschiede, die noch dadurch verschärft werden, daß diese Auffassungen sich mit der Zeit ändern (und nicht zuletzt durch den Einfluß nicht-naiver wissenschaftlicher Theorien). (13) Wir müssen also wohl zugestehen, wenn wir unsere Untersuchungen des gesunden Menschenverstands weiter vorantreiben wollen, daß wir uns in viel größerem Ausmaß auf eine komparative Disziplin der Ethnophysik einlassen müssen, als auf eine einzige priviligierte Disziplin der naiven Physik, wie Aristoteles oder Patrick Hayes sie konzipiert hat. 
 

Gegenargument

Sicher ist, daß sich für eine pluralistische oder relativistische Auffassung empirische Unterstützung finden läßt. Es wäre aber falsch, sozusagen a priori vorauszusetzen, daß der gegebenen Vielfalt keine Grenzen gesetzt sind. Denn die Unterschiede, denen man im Bereich der physikalischen Anschauungen der Menschen begegnet, haben mit den im jeweils gegebenen Alltag bedeutungsvollen physikalischen Strukturen nichts zu tun. Sie betreffen vielmehr Erklärungsschemata oder -mythen auf der Mikro- oder Makroebene. Die Gründe hierfür sind leicht verständlich und lassen sich aus den relativen Überlebenschancen verschiedener physikalischer Meinungssysteme herleiten. Ein Fischerstamm etwa, dessen Mitglieder glauben würden, es bringe Glück, vor dem Angeln große Löcher in ihre Boote zu bohren, würde nicht lange überleben. Unbegrenzte Möglichkeiten bieten sich den Fischern dagegen in der Erklärung dafür, wie die Seelen der Fische sich nach dem Tod bewegen. (14)

Wenn wir uns also in unseren Untersuchungen auf die Ebene der Alltagsrealität konzentrieren und nur die hierfür relevanten Überzeugungen des `normalen Menschen' in Betracht ziehen, stellen wir alsbald fest, daß die vorgebliche Vielfalt, auf die sich der erwähnte pluralistische Einwand stützt, nur scheinbar ist. Gerade jenes Überzeugungssystem, das die Gegenstände der Alltagswelt und ihre physikalischen Eigenschaften betrifft, hat sich unvermeidlicherweise entwickelt und dann immer wieder bestätigt. 
 

Prinzipien des Common sense

Die Erklärungs- und Vorhersagekraft der herkömmlichen Physik erklärt sich am besten dadurch, daß diese Physik aus Sätzen über eine entsprechende autonome Realität besteht. Ähnlich, aber auf einer anderen Ebene, soll nun die Annahme eines naiv-physikalischen Realismus den Erwerb, die Anpassungsfähigkeit, und den Erfolg unseres gesunden Menschenverstands dadurch erklären, daß er aus Gesetzen besteht, die durch eine entsprechende autonome Realität wahr gemacht werden. Dadurch wären auch die erhofften rechnerischen Erfolge der entsprechenden Simulationen seitens Hayes und seiner Roboter zu erklären.

Um eine solche realistische Auffassung in überzeugender Weise formulieren zu können, müssen wir aber erkennen, daß das System der Common sense-Gesetze nicht als isoliertes Ganzes innerhalb der Gesamtheit unserer sonstigen Überzeugungen besteht. Vielmehr ist unser Common sense als Gefüge von Wahrheiten über die alltägliche Welt mit anderen Glaubenselementen verbunden und ist als ein nur durch Abstraktion daraus zu trennendes Moment aufzufassen. Diese anderen mit dem Common sense verbundenen Glaubenselemente sind dafür verantwortlich, daß unser Bild dieser Alltagsrealität sich mit der Zeit ändert. Die Tatsache dieser historischen Veränderungen wollen wir hier natürlich nicht leugnen; die Grundwahrheiten des Common sense, wie z.B. daß fallengelassene Körper gewöhnlich herunterfallen, werden aber nicht davon betroffen. Wir wollen auch nicht leugnen, daß die Annahme einer autonomen Ebene der physikalischen Welt, die unsere Common sense-Meinungen wahr machen würde, nicht notwendig zur Folge hat, daß es nur ein einziges praktikables System solcher wahren Meinungen geben könnte. Wenn wir allerdings wieder an das Fischerbeispiel denken, stellen wir alsbald fest, daß die hier denkbaren Unterschiede letztlich trivial sein müssen und nur etwa mit der Art und Weise zu tun haben können, wie die Materie und Ereignisse der Alltagswelt in statische und dynamische Einheiten aufgeteilt sind.

Wir werden also im folgenden davon ausgehen, daß es ein System wahrer Common sense-Meinungen gibt, das die menschlichen Handlungen bestimmt. Die Prinzipien des gesunden Menschenverstands können in die folgenden (als vorläufige Denkhilfe aufzufassenden) Gruppen eingeteilt werden:

A. Common sense-Realismus: Es gibt eine Welt, die allen Menschen gemeinsam ist. Diese Welt ist unabhängig sowohl von unserem Denken und unserer Wahrnehmung als auch von unseren Handlungen, unserer Sprache, und unseren Theorien. Es ist eine Metaüberzeugung des gesunden Menschenverstands über sich selbst, daß viele unserer Common sense-Überzeugungen wahr sind, weil diese einheitliche Common sense-Realität so ist, wie sie ist. (15)

B. Zuverlässigkeit der Wahrnehmung: Die Welt ist mehr oder weniger so, wie sie uns in unseren Wahrnehmungsakten erscheint, und die überwiegende Mehrheit von Urteilen, die auf direkten Wahrnehmungen beruhen (`dies ist ein Apfel', `dies ist ein Baum', `dies ist gelb', usw.), sind aus diesem Grund wahr. Die Wahrnehmung liefert uns zwar nur partielle und einseitige Auskünfte über die Gegenstände unserer Aussenwelt. Ihre Auskünfte können aber immer durch weitere Wahrnehmungsakte ergänzt und notfalls korrigiert werden.

Der gesunde Menschenverstand weiß, daß die Auskünfte der Wahrnehmung, auf denen er beruht, oft perspektivish und kontextabhängig sind. Es ist sogar ein Prinzip des gesunden Menschenverstands, daß wir in manchen Fällen zwischen der Art, wie die Welt ist, und der Art, wie sie uns oder unseren Mitmenschen erscheint, unterscheiden müssen. Common sense ist in diesem Sinn nicht naiv, da er eine Vielheit von Gegensätzen kennt, die durch Ausdrücke wie `erscheint als . . .', `ist in Wirklichkeit . . .' usw. angezeigt werden. (16) Auf der anderen Seite erkennt er aber auch, daß wir kraft der verschiedenen Konstanz-Eigenschaften unserer Wahrnehmungserfahrung in vielen Fällen diesen perspektivischen Charakter der Wahrnehmung unberücksichtigt lassen können. Materielle Körper erscheinen z.B. auch dann mit konstanten Farben, wenn die Beleuchtung geändert wird. Dies sagt uns, daß von der Perspektive der Alltagserfahrung aus die Farbe genauso objektiv ist wie z.B. die Gestalt oder andere `primäre Qualitäten'. Alle wahrnehmbaren Qualitäten werden ja vom Common sense als nicht weniger von den sie wahrnehmenden Personen unabhängig betrachtet wie die Substanzen, die ihre Träger sind. Der Common sense weiß nichts von `Empfindungen' oder `Sinnesdaten' im philosophischen Sinn des Wortes. Die Röte oder Wärme, die wir wahrnehmen, begreift er als real existierende Qualitäten materieller Substanzen der Außenwelt, die auch dann existieren würden, wenn es uns nicht gäbe. (17)

C. Gemeinsamkeit des Common sense: Der gesunde Menschenverstand ist allen Menschen gemeinsam. Diese Idee, die im Common sense selbst verankert ist, hat auch auf theoretischer Ebene eine lange Geschichte. (18) Nach Thomas Reid bilden unsere Common sense-Meinungen die unausweichliche Voraussetzung jeden denkerischen Austauschs zwischen uns und anderen. Diese Überzeugungen sind so selbstverständlich, daß alles ihnen Entgegengesetzte z.B., daß man eine Primzahl essen oder einen Fisch auf der Violine spielen könnte , nicht nur als falsch, sondern als absurd erscheint. (19) Es wird wohlgemerkt hier nicht behauptet, daß was alle glauben, deswegen schon zum Bestand der Common sense-Meinungen gehöre. Noch weiter sind wir davon entfernt, eine Konsenstheorie der Wahrheit der Thesen des Common sense zu akzeptieren und zu meinen, eine These sei deswegen wahr, weil alle sie akzeptieren. Unsere These ist vielmehr die, daß der Common sense deshalb erfolgreich sei, weil er aus Wahrheiten über die Strukturen der Außenwelt bestehe. Diese These wäre ihrer ganzen Kraft beraubt, falls `Wahrheit' selbst als abhängig von einer Teilhabe am Common sense betrachtet würde.

D. Die Substanz-Akzidens-Ontologie: Die Welt des gesunden Menschenverstands besteht aus dauerhaften körperlichen Dingen oder Substanzen, welche die Träger verschiedener Kategorien von Akzidentien sind. Substanzen können vor allem Qualitäten haben und in verschiedenartige Ereignisse und Vorgänge verwickelt werden. (20) Substanzen bleiben sich gleich, auch wenn sie zu verschiedenen Zeiten Träger verschiedener, sogar konträrer Akzidentien sind.

Die Substanzen der Alltagswelt sind unabhängig von ihren jeweiligen Akzidentien. Qualitäten, Ereignisse und Vorgänge sind dagegen stets abhängig von den ihnen zugrundeliegenden Substanzen: sie können ohne die Substanzen, in denen (oder im Verhältnis zu denen) sie vorkommen, nicht existieren. Die Substanzen der Alltagswelt unterscheiden sich weiter dadurch, daß sie in der erwähnten Art als Identisches beharren können, Ereignisse und Vorgänge dadurch, daß sie sich in der Zeit entfalten und verschiedene zeitliche Teile haben. Mein Kopfschmerz setzt sich z.B. aus sukzessiven Kopfschmerzphasen zusammen. Ich selbst dagegen setze mich nicht aus meiner Kindheit, Jugend usw. zusammen; vielmehr hat der ausgedehnte Vorgang, den wir mein `Leben' oder meine `Biographie' nennen, meine Lebensphasen als Teile.

Die Substanz-Akzidens Ontologie muß allerdings dadurch ergänzt werden, daß wir erkennen, daß die Alltagsrealität auch viele andere quasi-substantielle Kategorien aufweist, etwa die der homogenen Massen, Flüssigkeiten, der verschiedenartigen Gestalten höherer Ordnung, sowie Grenzen, und dergleichen mehr.

E. Natürliche Arten: Wichtige material-ontologische Unterteilungen nimmt der gesunde Menschenverstand in bezug auf die Gesamtheit der irdischen Substanzen und Akzidentien (sowie der Entitäten anderer Kategorien) vor. Der gesunde Menschenverstand ordnet die Gesamtheit der alltäglichen Substanzen, Qualitäten und Vorgänge sowie ihre natürlichen Teile und Glieder generell verschiedenen, sich nicht überschneidenden natürlichen Arten oder `Spezies' zu. In bezug auf jede natürliche Art unterscheidet er eher `typische' Fälle von eher nicht-typischen, die sich um die typischen (die sogenannten `Prototypen') gruppieren. Diese typischen Fälle sind leichter zu erkennen und sie spielen daher im Lernprozeß eine priviligierte Rolle. (21) Dies insofern, als die Tendenz besteht, in unseren Erinnerungen die weniger typischen Fälle den typischen anzugleichen. Der gesunde Menschenverstand versucht im allgemeinen alles, ob Substanz oder Qualität, spontan in einer der natürlich gegebenen Alternativen unterzubringen. Die Palette dieser Alternativen ist eng begrenzt, was unser Erkennens- und Wiedererkennensvermögen vielfach fördert.

F. Die Lehre von der Bewegung: Wie jetzt schon klar wird, deckt sich der rohe Inhalt des gesunden Menschenverstands zu einem beträchtlichen Teil mit dem, was Aristoteles in seinen physikalischen und metaphysischen Schriften niedergelegt hat. In Übereinstimmung mit dem gesunden Menschenverstand unterscheidet Aristoteles vor allem zwischen `selbstbewegenden' Dingen und solchen, die nur durch etwas anderes in Bewegung versetzt werden können (241 b 34f.):

es kommt manchmal vor, daß wir einen Anfang der Bewegung in uns selbst und aus uns selbst heraus erzeugen, ohne daß etwas uns von außen in Bewegung gesetzt hätte. Wir sehen nichts derartiges im Fall unbelebter Dinge, die immer von außen in Bewegung gesetzt werden (252 b 18-23). (22)
Über das Problem der sich selbst bewegenden Dinge und speziell der Willensfreiheit wird noch zu reden sein. Vorerst einige Bemerkungen zur aristotelischen Lehre des In-Bewegung-Setzens unbelebter Körper. Hier weicht Aristoteles von dem Gedankengang des gesunden Menschenverstands bekanntlich ab, und zwar in einer Weise, die für die spätere Entwicklung der physikalischen Theorie verhängnisvoll wurde. 

Der aristotelischen Theorie liegt die Idee zugrunde, Bewegung finde stets in einem Medium statt, das dünner oder dichter ist (215 b 1ff.). Von einer gegebenen Kraft wird dann einem gegebenen Körper in einem dünneren Medium eine größere Geschwindigkeit vermittelt als in einem dichteren. Warum bewegen sich geworfene Körper nun nach oben, was gegen ihre natürliche Neigung ist? Alles in Bewegung Befindliche wird nach Aristoteles von irgend etwas in Bewegung gesetzt und gehalten. Was könnte aber für die Weiterbewegung eines geworfenen Körpers verantwortlich sein, der sich auch noch nach oben bewegt, nachdem er die Hand des Werfers verlassen hat? Die aristotelische Antwort hierauf ist wenig überzeugend. Er behauptet, die Luft (oder das jeweils gegebene Medium) sei für das Weiterbewegen des geworfenen Körpers verantwortlich, als ob sie, nachdem sie durch den Körper geschoben und verdichtet wurde, sich sozusagen hinter ihm zusammenkräuseln und ihn weitertreiben würde. (215 a 14ff.) 

Schon im 2. Jahrhundert v. Chr. wurde diese Lehre durch den Astronomen Hipparch in Frage gestellt. Sie ist dann vor allem durch Philoponus im 6. Jahrhundert heftig kritisiert worden, obwohl noch im 14. Jahrhundert die aristotelische Auffassung durch sonst so fortschrittliche Denker wie die Oxforder Calculatores als unbezweifelbar angenommen wurde. Die Suche nach einer Alternative zur aristotelischen Wurftheorie im Bann Philoponus' führte aber schrittweise zur Lehre von den virtutes impressae und des Impetus, wie sie durch Franciscus de Marchia und Buridan herausgearbeitet wurden, bis hin zur modernen Trägheitsdynamik Galileis. (23)

G. Kausalität und Regularität: Ein weiteres grundlegendes Prinzip des gesunden Menschenverstands sowohl auf der naiven als auch auf der theoretischen Ebene besteht darin zu glauben, daß die Welt eine durchgehende Regelmäßigkeit oder Gesetzmäßigkeit aufweise. Die Zukunft wird also dem gesunden Menschenverstand zufolge in großen Zügen der Vergangenheit ähnlich sein. Die Welt wird z.B. immer aus dauerhaften Substanzen (usw.) bestehen. Der gesunde Menschenverstand selbst wird demnach in seiner Gültigkeit auch in Zukunft nicht angetastet werden. 

Es ist weiter eine Annahme des Common sense, daß die Welt eine kausal abgeschlossene und überdies intelligible Ganzheit ausmacht. Alle Ereignisse und Vorgänge der Welt sind prinzipiell durch Rückverweis auf frühere Ereignisse und Vorgänge und auf die sie regulierenden kausalen Gesetze erklärbar. (24) Dies gilt auch für Fälle, in denen wir es mit geistigen Ereignissen zu tun haben mit dem Erzeugen eines `Anfangs der Bewegung in uns selbst und aus uns selbst heraus' , wo die kausalen Erklärungsschemata allerdings der sogenannten `folk psychology' und nicht der Common sense-Physik zuzurechnen sind. (25)

Es gehört also zu den Prinzipien des Common sense, daß die Ereignisse und Vorgänge der Welt ein kausal abgeschlossenes Ganzes ausmachen. Dabei wird aber nicht vorausgesetzt, daß alle Ereignisse und Vorgänge der Alltagswelt selbst durch Ereignisse und Vorgänge dieser Alltagswelt verursacht wären. Der gesunde Menschenverstand weiß, daß nicht alle ihm zugänglichen Ereignisse und Vorgänge durch kausale Gesetze erklärt werden können, die selbst ausschließlich Ereignisse und Vorgänge seines eigenen Bereichs betreffen. Unsere geistigen Tätigkeiten sind z.B. Teile der Common sense-Ordnung, nicht aber die neurophysiologischen Ereignisse und Vorgänge, die mit ihnen kausal verbunden sind. 

Noch wichtiger ist, daß auch da, wo der Common sense kausale Erklärungen für Ereignisfolgen besitzt, die rein innerhalb der Alltagsrealität ablaufen und nur die unserer Alltagserfahrung vertrauten Kausalgesetze voraussetzen, die erwartete Abfolge aus Gründen manchmal nicht eintreffen wird, die außerhalb des in der Alltagserfahrung Gegebenen liegen. Auch innerhalb der Sphäre der Alltagsrealität kann also in Ausnahmefällen etwas schiefgehen, was dann definitionsgemäß als unerwartet zu bezeichnen ist. Der gesunde Menschenverstand hat dann nichts mehr zu sagen, und auch seine Theoretisierung in Form einer naiven Physik hilft ihm hier nicht weiter. Beide handeln, was ihre dynamischen Gesetze und Erklärungen betrifft, nur von Phänomenen ` ', von Phänomenen also, die zwar in den meisten Fällen eintreffen, die aber außerhalb des Bereichs des Notwendigen liegen. (26)

Unser gesunder Menschenverstand macht sich nichts daraus, wenn ihm in Einzelfällen der tatsächliche Verlauf der Dinge widerspricht. Wird er mit Gegebenheiten konfrontiert, die ihm widersprechen, bleibt er davon unberührt: er merkt nur, daß hier besondere Verhältnisse vorkommen müssen, die für das seltsame Faktum verantwortlich seien. Auch von dieser Perspektive aus läßt sich der immerwährende Charakter des gesunden Menschenverstands erklären: nichts, was erscheint, kann ihn aus seinen festen Bahnen werfen. Im Gegensatz dazu ist die moderne Wissenschaft `progressiv', indem sie nach immer besseren Theorien strebt, nach Korrektur und Ergänzung, um ihre kausale Abgeschlossenheit zu bewahren. Der gesunde Menschenverstand ist (wie übrigens die aristotelische Wissenschaft) nicht progressiv in diesem Sinn. Zwar kann der Vorrat an Common sense-Überzeugungen sich marginal geringfügig ändern, vor allem was die relative Betonung seiner verschiedenen Komponenten betrifft. Er kennt aber keinen Paradigma-Wechsel. Er betrachtet sich selbst als in großen Zügen unveränderlich und ist daher auch nicht an seiner eigenen Falsifizierung interessiert. (27)

H. Die Grenzen des Common sense und der Common sense-Welt sind vielfach unbestimmt: Viele Eigenschaften der Common sense-Welt z.B. was die Frage des zeitlichen Ursprungs und Endes der Welt oder der unendlichen Teilbarkeit ihrer Materie betrifft sind aus prinzipiellen Gründen schwer oder sogar unmöglich festzustellen. Geistige Akte sind z.B. immer räumlich lokalisiert; es gibt aber keine bestimmte Festlegung ihrer genauen räumlichen Lage. Der gesunde Menschenverstand weiß, daß die Zeit ein eindimensionales Kontinuum ist, in dem zwei heterogene Regionen, nämlich das Vergangene und das Zukünftige, problemlos unterschieden werden können. Er weiß auch, daß sie durch ein ständig sich veränderndes `Jetzt' als ihre gemeinsame Grenze getrennt werden. (Phys., 222 a 10-12) Auf die Frage aber, wie lang dieses `Jetzt' sei, gibt er keine eindeutige Antwort. Der Common sense weiß von sich selbst, daß er (im großen und ganzen) wahr ist; er weiß aber nicht, was Wahrheit ist. 

Die Frage der menschlichen Freiheit oder generell der Möglichkeit eines Sich-selbst-in-Bewegung-Setzens belebter Körper scheint ebenfalls eine Frage zu sein, über die der Common sense keine präzise Meinung hegt. Die Grenze zwischen Alltagsrealität und geistigem Subjekt (oder zwischen Common sense-Physik und folk psychology) ist also vom Standpunkt des gesunden Menschenverstands aus grundsätzlich unbestimmt (und deswegen gibt es gerade in diesem Bereich so viel Freiraum für die Gedankenexperimente der Philosophen). 
 

Schlußbemerkungen

Kommen wir jetzt auf die Frage zurück, ob man mit den Mitteln einer `naiven Physik' eine leistungsfähige Grundlage für die Lösung des Salat-Problems für den Roboter oder seinen Programmierer gewinnen könnte. Nach dem Gesagten muß es höchst fraglich sein, ob man eine voraussagekräftige Theorie mit diesen Mitteln je erreichen könnte. Denn die Welt des gesunden Menschenverstands ist, wie schon bemerkt, kein kausal abgeschlossenes System. Sie enthält viele Phänomene, die spontan Mechanismen zugeschrieben werden, die außerhalb ihres eigenen Bereichs liegen. Dies besagt aber, daß jede dem Common sense adäquate Theorie eine niedrige Voraussagekraft haben muß, die sie für die Zwecke eines Roboter-Ingenieurs untauglich macht. Ein Roboter wäre doch ständig mit immer komplexer werdenden Entscheidungsketten konfrontiert, wobei jede Fehlentscheidung katastrophal sich zuspitzende Konsequenzen haben könnte. Nur mit Hilfe einer kausal abgeschlossenen Theorie können wir aber in bezug auf den Kausalverlauf der Welt universale und endgültige exakte Voraussagen gewinnen, die den hierzu nötigen Grad der Verläßlichkeit erreichen würden. Eine solche Theorie gewinnen wir allerdings nur auf einer anderen Ebene als der des Common sense, was sie dann wieder für die Zwecke der Robotik untauglich macht.

Wenn die letztlich erreichbare Voraussagekraft der naiven Physik sehr niedrig ist, sollten wir dennoch nicht voreilig daraus schließen, daß sie ihres Wahrheitsgehalts und ihrer wissenschaftlichen und praktischen Bedeutung beraubt wäre. Denn die Ziele der naiven Physik sind von der Perspektive unserer jetzigen realistischen Betrachtung aus gesehen ganz anderes als die der herkömmlichen quantitativen Physik. Die naive Physik mag zu keinen generell zuverlässigen Voraussagen bezüglich der Kausalabfolgen der alltäglichen Welt führen. Sie liefert trotzdem eine Menge qualitativer und struktureller Voraussagen, wie wir sie auch von verschiedenen Zweigen der Mathematik her kennen. Von der Geometrie wissen wir z.B., daß, wenn ein Kristall oder die Haut eines Virus oder eine Schneeflocke oder eine Bienenwabe existiert, die Symmetrie dieser Struktur notwendigerweise eine der durch die Mathematik zugelassenen `platonischen' Symmetrien ist. In dieser Weise wird die naive Physik dem Roboter dazu helfen, die Welt des Common sense kategorisch aufzufassen, ganz so wie der Mensch es tut. Die naive oder qualitative Physik erlaubt zudem eine mathematische Bestimmungen der Formen und Strukturen der Alltagswelt, (28) die zu präziseren Antworten auf die Fragen führen werden, wie diese Alltagswelt, in der wir doch alle leben, mit der Welt der nicht-naiven Physik in Zusammenhang zu bringen ist, und wie sie von uns in unseren Wahrnehmungsakten überhaupt erfaßt werden kann.
 

Fußnoten

1. Vgl. auch Simplikios, In Aristotelis physicorum libros quattuor priores commentaria 2, Diels, l, Berlin 1882, S. 291f., der allerdings eine Auffassung vertritt, wonach die Physik und die Astronomie sich nur in ihren Methoden unterscheiden, nicht aber, wie bei Proklos und Maimonedes, in ihrem Anwendungsgebiet.

2. Mose Ben Maimon, Führer der Unschlüssigen, Übersetzung von Adolf Weiß, Hamburg: Meiner, 1972, 2. Buch, 24. Kapitel, S. 168.

3. `Thus the point is not to discuss what really happens physically, but rather to dispute imaginary cases in the usual fourteenth-century manner.' (E. D. Sylla, "The Oxford Calculators", in N. Kretzmann, et al., Hrsg., The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, Cambridge: Cambridge University Press, 540-563, S. 558.)

4. J. D. de Kleer und J. S. Brown, "A Qualitative Physics Based on Confluences", Artificial Intelligence, 1984, 24, 7-84, sowie K. Forbus, "Qualitative Process Theory", Artificial Intelligence, 24, 1984, 85-168.

5. J. R. Hobbs, W. Croft, T. Davies, D. Edwards und K. Laws, "Common-sense Metaphysics and Lexical Semantics", Computational Linguistics, 13, 1987, 241-250.

6. P. J. Hayes, "The Second Naive Physics Manifesto", in J. R. Hobbs und R. C. Moore (Hrsg.), Formal Theories of the Common-sense World, Norwood: Ablex, 1985, 1-36. Vgl. auch sein "Naive Physics I: Ontology for Liquids", aaO. 71-107.

7. Vgl. dazu noch J. H. Holland, K. J. Holyoak, R. E. Nisbett und P. R. Thagard, Induction. Processes of Inference, Learning, and Discovery, Cambridge, Mass. und London: MIT Press, 1986, S. 208.

8. Sowohl die Physiker als auch die Metaphysiker aller Schattierungen haben in den folgenden Jahrhunderten diese Erkenntnisse vernachlässigt. Wie Husserl in § 12 seiner Krisis behauptet, liegt ein Grund hierfür in Platons Überschätzung der Rolle der Gewißheit im Aufbau der menschlichen Erkenntnis.

9. Vgl. Kleer und Brown, aaO.

10. W. F. Sellars, "Philosophy and the Scientific Image of Man", in Sellars, Science, Perception and Reality, London: Routledge and Kegan Paul, 1963.

11. Vgl. J. Petitot und B. Smith, "New Foundations for Qualitative Physics", in J. E. Tiles, G. T. McKee and C. G. Dean, Hrsg., Evolving Knowledge in Natural Science and Artificial Intelligence, London: Pitman Publishing, 1990, 231-249.

12. Vgl. J. Petitot und B. Smith, aaO., sowie B. Smith: "The Structures of the Common-sense World", in A. Pagnini und S. Poggi, Hrsg., Gestalt Theory. Its Origins, Foundations and Influence, Florenz: Olschky, im Erscheinen.

13. Viele der naiven Überzeugungen erwachsener Menschen scheinen darüberhinaus inkonsistent mit dem, was wir von der newtonschen und nach-newtonschen Physik gelernt haben. Vgl. die bahnbrechenden Untersuchungen des italienischen Gestaltpsychologen P. Bozzi: "Analisi fenomenologica del moto pendolare armonico", Rivista di Psicologia, 52, 1958, 281-302; "Le condizioni del movimento `naturale' lungo i piani inclinati", Rivista di Psicologia, 53, 1959, 337-352; "Fenomenologia del movimento e dinamica pregalileiana", Aut Aut, 64, 1961, 1-24.

14. R. Horton spricht in diesem Sinne von der geteilten gemeinsamen Welt der `primary theory' gegenüber den verschiedenen Arten solcher `secondary theories', die für verschiedene ökonomische und soziale Systeme charakteristisch sind. Vgl. sein "Tradition and Modernity Revisited" in M. Hollis and S. Lukes, Hrsg., Rationality and Relativism, Oxford: Blackwell, 1982, vor allem S. 227ff. Die Hortonsche primäre Theorie entspricht in vielen Hinsichten dem was Husserl in seiner Krisis die `Ontologie der Lebenswelt' genannt hat.

15. Die Anerkennung der Rolle solcher Metaüberzeugungen im Aufbau des Common sense ist übrigens ein Verdienst des schottischen Common sense-Philosophen Thomas Reid und seiner Schule, die über unsere Common sense-Überzeugungen gezeigt haben, daß sie `cannot be freed from their metaphysical commitments and remain the beliefs of common sense.' Vgl. S. A. Grave, The Scottish Philosophy of Common Sense, Oxford: Clarendon Press, 1960, S. 108.

16. L. Forguson, Common Sense, London and New York: Routledge, 1989, S. 38.

17. Vgl. D. R. Hilbert, Color and Color Perception: A Study in Anthropocentric Realism, CSLI Lecture Notes Series, Chicago: University of Chicago Press, 1989.

18. Vgl. Fritz van Holthoon, "Common Sense and Natural Law: From Thomas Aquinas to Thomas Reid", in F. van Holthoon and D. R. Olson, Hrsg., Common Sense, Lanham/London: University Press of America, 1987, 99-114.

19. Vgl. hierzu F. C. Keil, Semantic and Conceptual Development. An Ontological Perspective, Cambridge, Mass. und London: Harvard University Press, 1979.

20. Vgl. R. Ingarden, Der Streit um die Existenz der Welt, 3 Bände, Tübingen: Niemeyer, 1964/65/74, vor allem Band 1, sowie auch die "Realontologie" von Hedwig Conrad-Martius, Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 6 (1923), 159-333.

21. Vgl. E. Rosch, C.B. Mervis, W. Gray, D. Johnson und P. Bayes-Braem, "Basic Objects in Natural Categories", Cognitive Psychology, 8, 1976, 382-439.

22. Vgl. die phänomenologische Deutung der aristotelischen Physik als Alltagsphysik bei W. Wieland, Die aristotelische Physik, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1962.

23. Vgl. A. Maier, Die Vorläufer Galileis im 14. Jahrhundert, Rom, 1949; M. Clagett, The Science of Mechanics in the Middle Ages, Madison: The University of Wisconsin Press, 1959; E. A. Moody, "Galileo and His Precursors", in Moody, Studies in Medieval Philosophy, Science, and Logic. Collected Papers 1933-1969, Berkeley: University of California Press, 1975.

24. Vgl. Phys. 212 b 16 sowie die 3. Cartesianische Meditation Edmund Husserls.

25. Diese folk psychology handelt von dem auch dem Common sense vertrauten Gebiet der menschlichen Gründe und Motive, Werte und Bewertungen, Entscheidungen und Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche, und sie ist deswegen möglich, weil die Menschen sich im Normalfall verstehbar verhalten. Vgl. darüber etwa D. Dennett, "Intentional Systems", Journal of Philosophy, 68 (1971), 87-106.

26. An. Pr. 32 b 4-14. Vgl. darüber H. Burkhardt, "Contingency and Probability: A Contribution to the Aristotelian Theory of Science", in I. Angelelli und A. d'Ors, Hrsg., Estudios de Historia de la Logica. Actas del II Simposio de Historia de la Logica, Pamplona: Ediciones Eunate, 1990, 125-160.

27. Vgl. Paul Feyerabend, "In Defence of Aristotle: Comments on the Condition of Content Increase", in G. Radnitzky und G. Andersson, Hrsg., Progress and Rationality, Dordrecht: Reidel, 1978, 143-180.

28. Vgl. Thom, aaO. sowie J. Petitot, "Morphodynamics and the Categorial Perception of Phonological Units", Theoretical Linguistics, 15, 1989, 25-71.