Die ganze Welt ist eine Bühne:
Zur Ökologie und Ontologie menschlicher und tierischer Lebenswelt 

Barry Smith

All the world's a stage,
And all the men and women merely players;
They have their exits and their entrances,
And one man in his time plays many parts
 

Die ganze Welt ist eine Bühne
Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und gehen wieder ab,
Sein Leben lang spielt jeder manche Rollen
 

1. Einleitung 

Die folgenden Überlegungen entwickeln die Grundzüge einer Theorie der Umwelten menschlichen und tierischen Verhaltens. Den Ausgangspunkt bildet die philosophische Disziplin der Ontologie, die man als die Wissenschaft der verschiedenen Kategorien von Gegenständen in den verschiedenen Bereichen des Seins definieren kann. Im ersten Teil des Vortrags wird eine einfache Ontologie der Objekte (Substanzen) und der Ereignisse (Akzidentien) dargelegt. Personen sind Objekte, ihre Handlungen Ereignisse. Diese bikategoriale Ontologie von Objekten und Ereignissen hat tiefe Wurzeln in der philosophischen Tradition seit Aristoteles. Meine heutigen Bemerkungen nehmen ihren Ausgang allerdings von Husserls Übernahme dieser Tradition sowohl in den formal-ontologischen Teilen seinerLogischen Untersuchungen als auch in der Krisis der europäischen Wissenschaften und in seinen anderen späten Schriften zur Ontologie der Lebenswelt. 

Die klassische Ontologie von Substanzen und Akzidentien ist, möchte ich behaupten, für die Festlegung der Strukturen menschlichen und tierischen Verhaltens nicht hinreichend, da die Umwelten dieses Verhaltens sich nicht in das klassische bikategoriale System einfügen.. Der Vortrag versucht dementsprechend, die Ontologie von Objekten und Ereignissen zu erweitern, und liefert den Grundriß einer Theorie der besonderen Gebilde, die die Alltagswelten menschlicher und tierischer Verhalten konstituieren.

Die Ausgangsüberlegung ist die folgende: Wir sind alle (Schau)spieler, und diese brauchen eine Bühne. Unsere Bühne ist die jeweilige Umwelt, in der wir leben und handeln. Der Terminus 'Umwelt' wird hierbei in Analogie zu Husserls Begriff der Lebenswelt verwendet. Er bezeichnet dementsprechend einen strukturierten Teil der Welt, in den sich ein Lebewesen, z.B. ein Mensch, einpaßt. Die Umwelt ist, wenn man so will, demnach die Bühne, auf welcher sich unser Verhalten abspielt. Der Versuch, das Wesen solcher Umwelten ontologisch festzulegen, bringt allerdings ein schwieriges Problem mit sich - ein Problem so alt wie Platons Höhlengleichnis und so neu wie gegenwärtige Reflexionen amerikanischer Philosophen zur Metaphysik der virtuellen Realität und zum Gedankenexperiment des Gehirns im Tank. Es gibt nämlich in manchen Fällen grobe Inkonsistenzen zwischen der Umwelt, wie wir sie uns gerade vorstellen, und der Umwelt als Bestandteil der wirklichen Welt. Das Problem, zwischen diesen beiden Umweltklassen einen Ausgleich zu finden, behandele ich im letzten Teil des Vortrags.
 

2. Objekte und Ereignisse

Wir beginnen mit der Unterscheidung von Objekten (Dingen, Körpern) und Ereignissen (Veränderungen, Prozessen). Die typischen Beispiele für Objekte sind Organismen, einschließlich menschlicher Lebewesen, sowie Steine, Kartoffeln, Uhren. Beispiele für Ereignisse sind: ein Pfeifen, ein Sprechen, ein Laufen. Objekte können selbständig existieren, während Ereignisse stets der Unterstützung durch Objekte bedürfen, um existieren zu können. Objekte sind die Träger von Ereignissen. Man sagt von Ereignissen, daß sie ihren Objekten „inhärieren" oder daß sie von ihren Objekten abhängig sind (oder mit Husserl: daß sie durch diese fundiert sind). Ein Objekt ist eine Einheit zunächst dadurch, daß es eine vollständige, bestimmte Grenze hat, und verfügt daher über eine gewisse natürliche Abgeschlossenheit. Ein Objekt nimmt Raum ein. Es ist eine ausgedehnte räumliche Größe derart, daß es einen Ort besetzt und räumliche Teile hat. Ein Objekt ist vom Anfang bis zum Ende seiner Existenz mit sich identisch. Fritz als Kind ist derselbe wie Fritz als Erwachsener, obwohl er sich in den dazwischenliegenden Jahren in vielerlei Hinsicht verändert hat. In diesem Sinne ist qualitativer Wandel mit numerischer Identität vereinbar.

Ereignisse können zeitliche Teile haben. Die ersten zehn Jahre meines Lebens sind ein Teil meines Lebens (eines ausgedehnten Ereignisses) und nicht ein Teil von mir. Die Teile eines Ereignisses beinhalten seine aufeinanderfolgenden Phasen. Die Teile eines Objekts wie Fritz sind seine Knochen, Organe, Zellen usw.

Objekte und Ereignisse sind zwei unterschiedliche Seinsarten. Jene beharren und bleiben in der Zeit identisch, diese ereignen sich: sie entfalten sich in der Zeit und sind zu keinem gegebenen Zeitpunkt vollständig gegenwärtig. 

Die typischen Beispiele für Ereignisse sind an einen einzigen Träger gebunden, wie etwa ein Denkakt an einen Denker gebunden ist. Ereignisse können aber auch relational (oder 'mehrstellig') sein. Relationale Ereignisse sind von einer Mehrzahl von Objekten abhängig. Sie verbinden diese zu komplexen, über einen kürzeren oder längeren Zeitraum bestehenden Ganzheiten. Zu den Beispielen für relationale Ereignisse gehören: ein Kuß, ein Schlag, ein Tanz, ein Gespräch, ein Vertrag, eine Schlacht, ein Krieg.


3. Vom Objekt zur Umwelt

Die Welt enthält zusätzlich Einheiten, die sich aus radikal heterogenen Teilen zusammensetzen. Ob wir an eine Theateraufführung, an eine Parlamentswahl oder an einen Flohmarkt denken, immer sind die hierbei konstituierten Ganzheiten räumlich-zeitliche Einheiten, obwohl sie von der übrigen Wirklichkeit durch keine physischen Diskontinuitäten abgegrenzt sind und das eigentümliche Merkmal haben, daß Organismen in ihnen eine Rolle spielen, sich in sie als Teilnehmer einfügen. Derartige Ganzheiten wurden auch deswegen selten in der philosophischen Tradition behandelt, weil sie zur Alltagsebene gehören. Seit Platon ist die Philosophie generell durch eine Privilegierung apodiktischen Wissens und durch eine entsprechende Geringschätzung alltäglicher Meinungen gekennzeichnet. Episteme werden auf Kosten von doxa bevorzugt. Diese wohl epistemologisch gerechtfertigte Privilegierung hat allerdings bedauernswerte Konsequenzen für die Ontologie. Werden die alltäglichen Meinungen des Menschen als philosophisch unbedeutsam erklärt, dann wird auch das ontologische Gegenstück dieser alltäglichen Meinungen unerforscht bleiben. 

Von empirischer Seite dagegen wurden Ganzheiten des genannten Typs eingehend untersucht. Vertreter der sogenannten „ökologischen Psychologie" wie Roger Barker und J. J. Gibson haben das Verhalten von Menschen im Rahmen einer Lehre von „Umgebungen" (settings) oder „physisch-behavioralen Einheiten" (physical-behavioral units) beschrieben, d.h. einer Lehre der wiederkehrenden Kontexttypen, die als Umwelten für die alltäglichen Aktivitäten von Personen und Gruppen von Personen dienen. Als menschliche Wesen sind wir von solchen vertrauten Umgebungen bestimmt, genau wie nicht-menschliche Lebewesen von den ökologischen Nischen, in die sie sich hineinentwickelt haben, bestimmt sind. 

Barker selbst konzentrierte sich als Kurt Lewins erster Assistent an der Child Welfare Station in Iowa auf die Umgebungen oder 'Settings' von Kindern. Sein wichtigstes Buch heißt One Boy's Day und beschreibt mit akribischer Genauigkeit Tausende von sukzessiven Umgebungen eines Jungen vom Aufwachen bis zum Einschlafen an einem einzigen Tag in einer kleinen Stadt im amerikanischen mittleren Westen. Er favorisierte Beispiele physisch-behavioraler Einheiten wie: Wendys Geometriestunde am Freitag, Jims Treffen mit dem Oberlehrer, der monatliche Klassenbesuch im Theater, die 5 Uhr Busfahrt nach Dromersheim. Diese Vorkommnisse zeichnen sich durch eine gewisse beständige Anordnung von physischen Gegenständen (Gebäuden, Zimmern, Mauern, Ziegeln, Tischen) aus, die in festen Beziehungen zueinander stehen, sowie durch gewisse beständige Verhaltensmuster der beteiligten Personen. 

Physisch-behaviorale Einheiten setzen sich aus physischen und behavioralen Teilen zusammen. Sie sind „transkategorial" in dem Sinne, daß sie gleichzeitig Gegenstände unterschiedlicher ontologischer Kategorien in sich schließen. Sie überschreiten die Grenze zwischen den zwei klassischen Seinskategorien von Objekten und Ereignissen - und auch aus diesem Grunde wurden sie von der philosophischen Tradition vernachlässigt. Physisch-behaviorale Einheiten sind Ganzheiten, die aus „stark strukturierten, unwahrscheinlichen Anordnungen von Objekten und Ereignissen bestehen." (Schoggen 1989, S. 4) Sie sind aber trotzdem, wie Barker es formulierte:

gewöhnliche phänomenale Entitäten, natürliche Einheiten, die keineswegs von einem Forscher aufoktroyiert werden. Den Laien sind sie genauso objektiv wie Flüsse und Wälder - sie sind Teile der objektiven Umwelt, die unmittelbar erfahren werden, genauso wie Regen und Sandstrände erfahren werden. (Barker 1968, S.11).
Eine Umgebung oder physisch-behaviorale Einheit ist eine Einheit: ihre Teile sind vereinigt, nicht durch irgendeine Ähnlichkeit, sondern durch räumliche Nähe und durch eine Interdependenz, z.B. durch jene Interdependenz, die sich aus einer kontrollierenden Macht (z.B. derjenigen des Klassenlehrers) ergibt. Verschiedene Individuen übernehmen in unterschiedlichem Ausmaß die verschiedenen Rollen innerhalb einer Struktur dieser Art. Jeder Teilnehmer hat darüberhinaus zwei Positionen innerhalb der Einheit inne: erstens ist er ein Bestandteil, der als solcher mithilft, die Einheit zu bilden; zweitens ist er ein Individuum, dessen Verhalten selbst von jener Einheit geprägt ist, deren Bestandteil er zu einem bestimmten Zeitpunkt darstellt. Die Person wird von dem jeweils gegenwärtigen Verhaltenskontext gestaltet; sie ist von diesem determiniert, und da dieser Kontext einer konstanten Veränderung unterliegt, kann man feststellen, daß jede Person viele Stärken hat, 
viele Arten der Intelligenz, viele soziale Reifheitsgrade, viele Geschwindigkeiten, viele Stufen liberaler und konservativer Gesinnung und viele ethische Codices, die weitgehend von den besonderen Verhaltenskontexten der Person abhängen. Die gleiche Person, die sich, vor ein mechanisches Problem gestellt, als äußerst stumpfsinnig erweist, kann z.B. eine beeindruckende Fertigkeit und Gewandtheit im Umgang mit sozialen Situationen an den Tag legen. (Schoggen 1989, S. 7.) 


Oder, um mit Shakespeare zu sprechen:

Sein Leben lang spielt jeder manche Rollen ...


4. Die Ontologie der Umgebungen

Jede Umgebung umschließt ihre Bestandteile, indem sie sie lückenlos umfaßt: die Schüler sind in der Klasse; das Geschäft öffnet morgens um 8 Uhr und schließt abends um 18 Uhr. Jede Umgebung nimmt dadurch einen bestimmten, umgrenzten Schauplatz, einen Ort ein und hat erkennbare geographische, physikalische und zeitliche Merkmale. Jede Umgebung hat darüber hinaus Grenzen, die mit den Grenzverläufen des innerhalb ihrer selbst stattfindenden Verhaltens übereinstimmen. Das Verhalten kann durch eine gegebene räumliche Region oder durch eine gewisse bauliche Struktur determiniert und beschränkt sein - wie etwa ein Fußballspiel durch das markierte Feld, auf dem es gespielt wird, oder wie das Verhalten in Schulen und Klöstern, Observatorien und Schiffswerften durch das jeweilige physikalische Umfeld determiniert und beschränkt ist.

Eine physisch-behaviorale Einheit, wie etwa eine religiöse Versammlung, eine Kinoveranstaltung, ein Tennisturnier, eine Seeschlacht oder dieser Vortrag, ist ein verwickelter Komplex aus Zeiten, Orten, Handlungen und Dingen. Seine Bestandteile können sowohl künstliche Elemente (Gebäude, Straßen, Kricketfelder, Bücher, Klaviere, Kriegsschiffe) als auch natürliche Merkmale (Hügel, Seen, bestimmte klimatische Merkmale, Licht- und Tonmuster) sein. Diese Merkmale und Elemente können darüber hinaus auf eine höchst spezifische Kombination eingeschränkt sein, etwa im Falle der Inthronisation eines Erzbischofs auf eine bestimmte Fläche in einem bestimmten Gebäude zu einer bestimmten Zeit mit bestimmten Personen und Gegenständen, die in einem bestimmten Muster verteilt sein müssen. Neben dem Verhalten der beteiligten Personen und Gegenstände kann die gesamte Einheit auch eine Vielzahl nicht-physischer Komponenten umfassen. Die Einheit kann z.B. unterschiedliche Formen linguistischer, rechtlicher und institutioneller Elemente aufweisen, die alle in Raum und Zeit in höchst spezifischer Weise verbunden sind. Diese Phänomene sind nicht nur hinsichtlich ihrer materiellen Beschaffenheit verschiedenartig, sondern ebenso hinsichtlich ihrer ontologischen Form. Sie umfassen somit Objekte, Ereignisse, Handlungen, Zustände und vielfältige konkrete und abstrakte Beziehungen zwischen diesen.

Barker führt dazu aus:

Die begriffliche Inkommensurabilität von Phänomenen, die für die Vereinheitlichung der Wissenschaften ein großes Problem darstellt, scheint die Einheiten der Natur nicht zu bekümmern. - Innerhalb der größeren Einheiten werden Dinge und Ereignisse von begrifflich einander immer fremderen Wissenschaften integriert und reguliert. (Barker 1968, S. 155)
Soweit es unser Verhalten betrifft, steht daher selbst die radikalste Verschiedenheit von Arten und Kategorien einer Integration nicht notwendigerweise entgegen. Das heißt allerdings, daß eine Wissenschaft menschlicher und tierischer Umwelten sich dadurch von jeder üblichen Wissenschaft wesentlich unterscheiden muß, daß sie keinen eigenen Gegenstandsbereich hat, sondern daß sie ihre Gegenstände aus der Kombination, - auch aus der a priori unwahrscheinlichsten Kombination - der Gegenstände anderer Wissenschaften hernehmen muß.
 

5. Der Ritt über den Bodensee

Es gibt aber eine Ausweichmöglichkeit, die sowohl unter Philosophen als auch unter Psychologen sehr oft bevorzugt wurde. Sie besteht darin, Umgebungen, Kontexte oder Umwelten reduktionistisch als bloß subjektive Konstrukte oder Projektionen aufzufassen. Aus der radikalen Verschiedenheit von Arten und Kategorien wird dadurch ein einheitliches und homogenes Gebiet der psychologischen Forschung.

In normalen Fällen besteht eine Harmonie zwischen einer solchen subjektiv aufgefaßten Umwelt und der entsprechenden externen physisch-biologischen Wirklichkeit. In manchen Fällen allerdings öffnet sich eine Kluft zwischen diesen beiden Bereichen, die für die subjektive Umweltauffassung problematisch wird und die hin und wieder für das betroffene Subjekt von katastrophaler Bedeutung sein kann.

Erinnern wir uns an die alte Geschichte vom Ritt über den Bodensee:

Ein Schneesturm peitscht die Luft. Alle Wege und Grenzsteine sind vom Schnee zugedeckt. Ein Mann zu Pferd trifft im Wirtshaus ein, glücklich, daß er nach Stunden des Reitens endlich angekommen ist. Der Wirt betrachtet ihn mit Erstaunen und fragt ihn, woher er denn komme. Der Reiter weist hinter sich, worauf der Wirt, in einem Ton der Ehrfurcht und Bewunderung, sagt: 'Herr Gott! so rittest du über den See!' 

Der Reiter erstarret auf seinem Pferd,
er hat nur das erste Wort gehört.

Es stocket sein Herz, es sträubt sich sein Haar,
dicht hinter ihm grinst noch die grause Gefahr.

Es siehet sein Blick nur den gräßlichen Schlund,
sein Geist versinkt in den schwarzen Grund.


Im Ohr ihm donnerts wie krachend Eis,
wie die Well umrieselt ihn kalter Schweiß.


Da seufzt er, da sinkt er vom Roß herab,
da ward ihm am Ufer ein trocken Grab.

(Gustav Schwab, Der Reiter und der Bodensee)
In welcher Umwelt, fragt sich der Gestaltpsychologe Kurt Koffka in einer entscheidenden Passage vonPrinciples of Gestalt Psychology, findet das Verhalten des Reiters statt? Für Koffka ist es selbstverständlich, daß diese Frage aus der subjektiven Perspektive beantwortet werden muß. Im psychologischen Sinne des Wortes 'Umwelt', sagt er, ist 'der Reiter überhaupt nicht über den See geritten , sondern über eine normale von Schnee gefegte Ebene. Sein Verhalten ist ein Reiten-über-eine-Ebene, nicht ein Reiten-über-einen-See.' (1935, S. 27f.)
 

6. Die Biomonadologie Jakob von Uexkülls

Diese subjektivistische Auffassung der Umwelten menschlichen Verhaltens als einer Vielzahl 'psychologischer Umwelten', die auf das jeweilige Verhalten und die kognitiven Anschauungen des Menschen exakt zugeschnitten wären, hat tiefe Wurzeln, die vielleicht bis auf Kants Begriff einer 'phänomenalen' Welt zurückreichen und die heute noch im sogenannten 'methodologischen Solipsismus' amerikanischer Kognitionswissenschaftler wie Jerry Fodor vorhanden sind. Wir finden dieselbe Idee, angewandt auf das Verhalten des Tieres, in der neuerdings wieder sehr einflußreichen 'konstruktivistischen Biologie' Jakob von Uexkülls. Nach Uexküll gibt es verschiedene Umwelten, die durch das biologische Verhalten verschiedener Tiere bestimmt sind. Alle Tiere, von dem einfachsten bis zum komplexesten, sind an ihre entsprechenden Umwelten mit gleicher Vollständigkeit angepaßt. Einem einfachen Tier entspricht eine einfache Welt, einem komplexen Tier eine artikulierte Welt.

Von Uexküll geht so weit zu behaupten, daß es keine Realität ausser diesen verschiedenen tierischen Umwelten gäbe: 'Alle Wirklichkeit ist subjektive Erscheinung - dies', so Uexküll, 'muß die große grundlegende Erkenntnis auch der Biologie bilden.' (Uexküll 1928, S. 2) 

Uexküll soll zu seiner relativistischen Umweltlehre bei einem Spaziergang in den Wäldern bei Heidelberg gekommen sein. Er sah eine Buche an, und stellte fest:

Dies ist nicht eine Buche, sondern meine Buche, die ich in allen Einzelheiten mit meinen Sinnesempfindungen aufgebaut habe. Was ich von ihr sehe, höre, rieche oder taste, sind nicht Eigenschaften, die ausschließlich der Buche zu eigen sind, sondern es sind die von mir hinausverlegten Merkmale meiner Sinnesorgane. (Schmidt 1980, S. 10)
Die daraus resultierende Ontologie kann als eine biologische Monadologie beschrieben werden. Uexkülls konstruierte Wirklichkeiten sind voneinander abgetrennte, fensterlose Monaden:
Vielleicht wird mich auch niemand verstehen [, sagt er]. Aber die Tatsache bleibt doch: 'Eppur non si move.' Nicht ich bewege mich um die Sonne, sondern die Sonne geht an meinem Himmelsgewölbe auf und unter. Das Gleiche geschieht an hunderttausend anderen Himmelsgewölben. Immer ist es eine andere Sonne, immer ein anderer Raum, in dem sie sich bewegt. (Brief an Chamberlain, 23. Oktober 1923)
Der Biologe zeigt uns, wie die Umwelt eines Tieres dieses 'wie ein festes, aber unsichtbares Glashaus umschließt'. Die Welt um uns wird mit 'zahllosen schillernden Welten' bevölkert (Uexküll 1928, S. 62). Jedes Tier, jedes Lebewesen hat seine eigene, private Bühne. 
 

7. Die phänomenologische Umweltlehre

Auch innerhalb der phänomenologischen Bewegung finden wir eine ähnliche Auffassung, so z. B. in Husserls Ontologie der Lebenswelt oder in Heideggers Lehre der Alltäglichkeit. Husserl schreibt: 'Als Person bin ich was ich bin als Subjekt einer Umwelt. Die Begriffe Ich und Umwelt sind untrennbar aufeinander bezogen.' (Ideen, Hua IV, S. 185.) Das Grundaxiom der konstitutiven Phänomenologie lautet: Gegenstände und Akte stehen in einem reziproken Abhängigkeitsverhältnis. Alle Gegenstände sind Korrelate entsprechender Akte. Jede wissenschaftliche Disziplin bestimmt ihre eigene Welt als ihr gegenständliches Korrelat. Und wie für Uexküll jedes Tier, so hat auch für Husserl jedes Volk 'seine Welt, in der für dasselbe alles gut zusammenstimmt' (Krisis, Beilage III, Hua VI, S. 382). 

Eine besonders klare Darstellung dieser phänomenologischen Umweltlehre finden wir bei Max Scheler:

Die „Dinge", die für unser Handeln in Frage kommen, die wir z. B. immer meinen, wenn wir bestimmte Handlungen von Menschen (oder Dispositionen zu solchen) auf das „Milieu" dieser Menschen zurückführen, haben mit den in der Wissenschaft gedachten Gegenständen (durch deren Supposition sie die natürlichen Tatsachen „erklärt") selbstverständlich nicht das mindeste zu tun. Die Milieusonne z. B. ist nicht die Sonne der Astronomie; das Fleisch, das gestohlen, gekauft wird usw., ist nicht eine Summe von Zellen und Geweben mit den in ihnen stattfindenden chemischen und physischen Prozessen. Die Milieusonne ist am Nordpol, in der gemäßigten Zone und am Äquator eine andere Sonne und ihr gespürter Strahl ein anderer Strahl.(Scheler 1954, p. 158f.)
Das Problem mit solchen Behauptungen ist klar. Wie jedes Schulkind mit einem Mikroskop weiß, ist Fleisch, das gestohlen oder gekauft wird, sehr wohl eine Summe von Zellen und Geweben, die Sonne am Nordpol sehr wohl dieselbe Sonne, die am Äquator erlebt wird. Es kann nicht wahr sein, daß die Dinge unserer praktischen Umwelt 'nicht das mindeste' mit den Gegenständen der verschiedenen Spezialwelten der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen zu tun haben. Es kann gleichfalls nicht der Fall sein, daß die Umweltdinge des einen Tieres nicht das mindeste mit den Umweltdingen eines anderen Tieres zu tun haben.

Für Scheler wie für Husserl, Koffka und Uexküll, gehören Umweltdinge jeweils einem phänomenalen Zwischenreich an, das irgendwie zwischen unserem Perzeptionsinhalt und den 'objektiv gedachten' Gegenständen der Wissenschaft liegen soll. Das zentrale Problem einer solchen relativistischen Auffassung von Umwelten besteht darin, daß sie die Existenz eines gemeinsamen Rahmens menschlicher und tierischer Handlung ausschließt. So wird unverständlich, wie die Fliege vom Salamander gefressen werden kann, wie überhaupt die verschiedenen Tiergattungen miteinander leben können und überhaupt entstehen konnten.
 

8. Ökologische Ontologie statt Subjektivismus

Wenn insbesondere unsere mentalen Fähigkeiten Produkte der Anpassung innerhalb der biologischen Entwicklung sind, so bedürfen unsere üblichen Theorien der Intentionalität und der mentalen Repräsentation einer radikalen Revidierung. Denn solche Theorien beginnen alle im Banne Descartes' mit einem Geist und einem inneren Theater von 'Inhalten' oder 'Vorstellungen' und werden dadurch mit dem Problem konfrontiert, wie sie erklären können, daß dieser Geist in der Lage ist, externe ('transzendente') physisch-biologische Gegenstände überhaupt zu erfassen. 

Die durch Brentano initiierte philosophische Tradition enthält zwar eine Reihe holistischer Denker, die zusammen die sogenannte Berliner Schule der Gestaltpsychologie gebildet haben. Die Mitglieder dieser Schule, vor allem Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka und Kurt Lewin, haben versucht, die Verhältnisse zwischen mentalen Akten und ihren Gegenständen als Teile oder Momente eines umfassenderen Verhältnisses von Subjekten und Gegenständen in einer gemeinsamen physischen und biologischen Außenwelt aufzufassen. Wie unsere Diskussion von Koffkas Behandlung des Rittes über den Bodensee klar macht, sind die Gestaltpsychologen aber noch nicht zu einer voll ausgereiften nicht-subjektivistischen Auffassung von Umwelten durchgedrungen, und dasselbe gilt auch für Phänomenologen wie z.B. Merleau-Ponty, dessen Lehre einer 'Leib-Gebundenheit der Erkenntnis' auch durch die Gestalttheoretiker beeinflußt wurde.

Die ökologische Ontologie, die ich hier verteidigen möchte, bricht also radikal mit der subjektivistischen Umweltauffassung. Sie beruht nicht auf der Grundlage von geistigen Inhalten und Projektionen sondern von Handlungen und von den Dingen, von den Sachen selbst, mit denen wir in unseren Handlungen zu tun haben. Diese Dinge sind nicht psychologische Produkte oder phänomenale Geschöpfe eines inneren Theaters. Sie und die Umwelten, die sie bilden, sind vielmehr Teile der Wirklichkeit, die dadurch zu Umwelten werden, daß ein menschlicher Organismus in sie eingepaßt und mit ihnen verflochten ist.

Für Vertreter dieser ökologischen Ontologie ist die ganze Wirklichkeit als eine komplexe Hierarchie „verschachtelter" Ebenen aufzufassen: Moleküle auf der unteren Ebene sind in das Innere von Zellen eingebettet, Zellen in Blätter, Blätter in Bäume, Bäume in Wälder, Wälder in Naturschutzgebiete und so weiter (Gibson 1986, S. 101). Jeder Organismus, ob Mensch oder Tier, ist dann in seiner Wahrnehmung und in seinem Verhalten auf Gegenstände und Merkmale einer bestimmten Ebene innerhalb dieser komplexen Hierarchie abgestimmt. Diese Gegenstände und Merkmale bilden zusammen eine ökologische Nische, und die typischen Verhaltensmuster des Tieres sind in bezug auf diese Nische ausgeprägt. Eine Nische umfaßt nicht nur unterschiedliche Objekte und Ereignisse, sondern auch Formen, Farben und Grenzen (Oberflächen, Ränder), welche sämtlich so organisiert sind, daß sie für das Überleben des jeweiligen Tieres von Bedeutung sind. Die gegebenen Merkmale motivieren den Organismus; sie dringen in sein Leben ein, sie stimulieren ihn auf vielerlei Weise.

Die Welt als Ganzes ist nun von dieser ökologischen Perspektive als eine einzige verschachtelte Struktur aufzufassen, worin Umwelten, Nischen, Umgebungen auf verschiedenen Ebenen ihre Stellung nehmen. Wie Moleküle in Zellen eingebunden sind und diese wiederum in Organe, so sind die verschiedenen Umwelten in größere Gebilde eingebunden, die es u.a. ermöglichen, daß zwischen verschiedenen Tieren eine verschiedenartige Berührung und Vermittlung zustande kommt. Die Umwelten aller verschiedenen Tiergattungen sind in dieser Weise als hierarchisch verschachtelt in einer einzigen Gesamtstruktur aufzufassen. Die Fliege und der Salamander gehören gleichzeitig einem grösseren Weltstück an, worin die jeweiligen miteinander verflochtenen Fliege- und Salamanderumwelten als Teile enthalten sind. An der Spitze dieser Hierarchie ist die Welt als Ganzes, eine einzige alle Umwelten umschliessende Gesamtstruktur, die allen Lebewesen gemeinsam ist.
 

9. Umwelten als Aufspaltungen der Wirklichkeit

Umwelten sind spezielle Teile oder Aufspaltungen einer einzigen uns umgebenden Wirklichkeit, die von der übrigen Wirklichkeit oft durch keine physischen Diskontinuitäten abgegrenzt sind. Die Welt, in der wir leben, ist dieselbe wie die, in der die verschiedenen Tiere leben. Sie ist auch mit der Welt etwa des Physikers identisch. Der Atomphysiker und der Astronom interessieren sich auch für Aufspaltungen dieser einen Welt, allerdings für Aufspaltungen, die verschiedene (mikro- und makro-) räumlicheKörnigkeiten haben. Dieser inzwischen übliche Terminus (engl.: 'granularity') bezeichnet die unterschiedlichen Grade von Feingliederung, die sich aus der verschiedenen Struktur der Sinnesorgane und geistigen Fähigkeiten verschiedener Lebewesen und Menschengruppen für ihre jeweiligen Umwelten ergeben. Die verschiedenen tierischen Verhaltenssysteme erzeugen Aufspaltungen verschiedenen Grades von Feingliedrigkeit im Rahmen der einen Wirklichkeit. Sie erzeugen dadurch ein System von 'Nischen' im ökologischen Sinn. 

Der Preis für eine solche ökologische Auffassung besteht darin, daß wir nicht mehr in jedem Fall eine harmonische Korrelativität zwischen Organismus und Umwelt konstatieren können. Zwar stellen Verhalten und Umwelt in den typischen ('default') Fällen eine solche Korrelativität dar. Wendys Zeichnen des Dreiecks auf der Tafel findet in der Geometriestunde und diese in der Schule statt. Und das, was Wendy und der Lehrer in typischen Fällen bei dieser Handlung denken, entspricht auch dem, was sie tatsächlich tun. In unseren alltäglichen Handlungen sind wir in diesen normalen Fällen gerade mit den Dingen, mit den Sachenselbst der uns umgebenden Welt verflochten. Manchmal aber, wie die Geschichte des Bodenseeritts klar macht, gibt es Fälle, wo diese Korrelativität verletzt wird. In solchen Fällen ist die Umwelt, in der wir handeln, völlig anders als die mutmaßliche Umwelt, in der wir zu handeln meinen. Die Rede von 'psychologischen Umwelten' ist daher irreführend. Vielmehr sollen wir davon reden, daß Lebewesen sich manchmal in Hinblick darauf irren, in welcher und in was für einer Umwelt sie gerade leben. Es gibt aber dann keine zusätzlichen, besonderen, psychologischen Umwelten, kein projiziertes Zwischenreich, wo vollkommene Korrelativität herrschen würde. Vielmehr gibt es die eine Welt, die Weltbühne worauf alle Frauen und Männer, und alle Tiere, gemeinsam ihre Spiele spielen.
 

10. Von der Umweltontologie zur ökologischen Ethik

Was ich hier angeboten habe, sind Ansätze einer „angewandten Metaphysik", einer neuen Subdisziplin der Philosophie, die ihre Relevanz nicht nur im Bereich der Psychologie und Biologie (und der Philosophie menschlicher und tierischer Lebenswelt) erweisen kann, sondern auch in anderen Bereichen, wo Umwelten und das oft konkurriende Verhalten von Organismen und Gruppen und Gattungen von Organismen in ihren Nischen in Frage stehen. 

Das Verhältnis zwischen Lebewesen und Umwelten kann offensichtlich auch ethische Bedeutung haben. Ich will daher diesen Vortrag mit einigen kurzen Bemerkungen zur angewandten Ethik im allgemeinen und zur neuen ökologischen Ethik im besonderen schließen. Die grossen ethischen Theorien der Vergangenheit haben immer eine ontologische Auffassung ethischer Gesetze, Werte oder Normen und ihrer Träger vorausgesetzt, z.B. in der Form einer Metaphysik der menschlichen Person oder menschlicher Gemeinschaften oder in der Form einer metaphysischen Explikation der Verwirklichung ethischer Werte durch Handlungen oder Motive. Die äußerst interessanten gegenwärtigen Entwicklungen im Bereich der Umweltethik bedürfen m.E. einer ähnlichen metaphysischen Explikation der zentralen Kategorie der Umwelt bzw. des Verhältnisses zwischen Umwelt und Lebewesen, Tiergattung usw. Denn erst dann werden Moralphilosophen in diesem Bereich in der Lage sein, Fragen über die ethische Bedeutsamkeit solcher Gebilde in einem entsprechenden systematischen Rahmen zu formulieren. Als Gegenpart für die heutige angewandte Ethik könnte also die angewandte Metaphysik eine unerwartete aktuelle Bedeutung erlangen, mit Konsequenzen für unser Verständnis nicht nur der biologischen (Um-)Welt sondern auch der (Mit-)Welt von Menschen. Denn auch unter Menschen, ob am Touristenstrand in Korsika oder in den Bergen des Kosovo, gibt es Verhalten, das wir nur im Rahmen einer differenzierten und nicht-reduktionistischen Ontologie des Verhältnisses von Mensch und Umwelt voll begreifen können.

Unser Leben lang spielt jeder von uns manche Rollen. Wir treten auf und treten wieder ab. Die Bühne, die eine, ganze Welt-Bühne bleibt identisch.
 

Literatur

Barker, Roger G. 1968 Ecological Psychology. Concepts and Methods for Studying the Environment of Human Behavior, Stanford: Standford University Press.

Barker, Roger G. u.a. 1978 Habitats, Environments, and Human Behavior. Studies in Ecological Psychology and Eco-Behavioral Science from the Midwest Psychological Field Station, 1947-1972, San Francisco: Jossey-Bass Publishers.

Barker, Roger G. 1951 One Boy's Day; a Specimen Record of Behavior, New York: Harper.

Gibson, J. J. 1979 The Ecological Approach to Visual Perception, Boston: Houghton-Mifflin, Neuauflage 1986, Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum.

Husserl, Edmund 1975/1984 Logische Untersuchungen, Husserliana XVIII (Hrsg. E. Holenstein) und XIX/1, XIX/2 (Hrsg. U. Panzer), Den Haag: Martinus Nijhoff.

Husserl, Edmund 1952 Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Husserliana IV (Hrsg. M. Biemel), Den Haag: Martinus Nijhoff.

Husserl, Edmund 1954 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Husserliana V (Hrsg. W. Biemel), Den Haag: Martinus Nijhoff.

Koffka, Kurt 1935 Principles of Gestalt Psychology, London: Routledge and Kegan Paul.

Scheler, Max 1954 Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. Ausg., Bern: Francke.

Schmidt, Jutta 1980 Die Umweltlehre Jakob von Uexkülls in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der vergleichenden Verhaltensforchung, Inaugural Dissertation, University of Marburg. 

Schoggen, P. 1989 Behavior Settings. A Revision and Extension of Roger G. Barker's Ecological Psychology, Stanford: Stanford University Press.

Smith, Barry 1994 „Die Strukturen der Common-Sense Welt", Logos, N. F. 1, 422-449.

Smith, Barry 1998 „Ontologie des Mesokosmos: Soziale Objekte und Umwelten", Zeitschrift für philosophische Forschung, 52, 521-540.

Uexküll, Jakob von 1928 Theoretische Biologie, Berlin: J. Springer.